Aktuelles, Silver Coin 203

Frohe Weihnachten

Ich wünsche euch ein frohes Weihnachtsfest. Genießt die Zeit mit euren Lieben und schaltet den Alltagsstress einfach mal aus. Klick und weg. Da ich mir bis zum 10. Januar eine Pause gönne, habe ich für euch eine kurze Weihnachtsgeschichte vorbereitet. Lesbar in zehn Minuten. Düster, aber hoffnungsvoll.  Viel Spaß damit. 🙂


Verlorene Weihnachten

Rina zählte zu einer aussterbenden Generation. In Red-Mon-Stadt gab es kein Weihnachten und sie als Einwanderin war eine der Wenigen, die sich noch daran erinnern konnten. Deshalb war sie es auch, die am 24. beschloss, dieses Fest aufleben zu lassen, auch wenn sie sich und die anderen damit in Gefahr brachte. Seit Monaten lebten sie wie Ratten unter der Straße, verbargen sich in der Dunkelheit und wurden von ihrer ausweglosen Situation erdrückt. Es war Zeit, dass ein wenig Licht in die Dunkelheit kam und mit ihm etwas, woran sie sich gemeinsam festklammern konnten, um nicht aufzugeben.

Eisiger Wind streifte Rinas Gesicht und sie zog ihre Jacke fester um den Körper. Sie stand im langen Schatten eines Hochhauses, Owens Hausmarkt fest im Blick. Vor dem Lebensmittelladen, er war beliebt, weil er Importwaren verkaufte. Ein seltenes Gut in einer Stadt, die vom Rest der Welt abgeschnitten war. Darum hatte sie diesen Ort gewählt. Zwischen den Menschenmassen konnte sie sich gut verstecken. Es durfte ihr nur niemand ins Gesicht sehen.

Rina zog den Schal über die Hälfte ihres Gesichtes und kämmte mit den Fingern ihren Pony über die Augen. Dann richtete sie den Blick auf den Boden. Sie zog den panischen Stachel, der sich tief in ihren Körper gefressen hatte und machte Platz für Mut. Nichts würde ihr passieren. Sie hatte es immer geschafft, denn im Notfall war sie flink wie eine scheue Katze. Vor Gefahr zu flüchten, war ihre Spezialität.

Sie machte sich auf den Weg zum Laden, passierte die Brücke zu Oberstadt, hörte ihr Herz in der Brust hämmern, zwängte sich zwischen die Menschen und war drinnen. Wärme umfing sie und ihre Wangen begannen zu brennen. Der Geruch fremder Gewürze stieg ihr in die Nase.

Zuerst brauchte sie Öl. Unauffällig schlich sie an den Leuten vorbei, entdeckte die goldene Flasche in unmittelbarer Nähe, gelangte dorthin, streckte die Hand aus und ließ sie unter ihrer geöffneten Jacke in einer Tasche verschwinden. Nun brauchte sie etwas Süßes. Ihr Blick streifte durch den Laden. Am anderen Ende waren die abgepackten Kekse, deshalb schob sie sich zwischen die Leute, kam in die Nähe des Regals, nutzte den Moment und ließ sie genauso verschwinden wie das Öl. Nur noch die Milch und Kakao. Ihre Schritte fühlten sich wie die eines Fremden an, doch sie fand die beiden Lebensmittel und ließ auch sie unbemerkt verschwinden. Geschafft. Niemand schrie, zeigte auf sie, brach in Panik aus. Sie waren alle mit sich selbst beschäftigt. Doch gerade als Rina zum Ausgang strebte, stieß sie gegen jemanden.

„Kannst du deine Augen nicht aufmachen!“, sagte ein Mann und in diesem Moment entglitt ihr die Situation. Reflexartig sah sie auf. Vor ihr stand ein großer Mann mit kurzen Haaren und eleganter Kleidung. Sein Blick traf ihren und er hatte freie Sicht auf ihre verräterisch goldenen Augen. Sekunden tickten. Er starrte sie an. Sie starrte ihn an. „Du … du … bist ein Lorca“, murmelte er und ein Stich raste durch Rinas Körper. Ausgesprochen, das verfluchte Wort.

„Hier ist ein LORCA!“, schrie er mit einem Mal. „Ruft doch jemand die Hygienepolizei!“

Es war passiert. Alle drehten sich zu ihr um und in ihren Gesichtern bildete sich der Ausdruck kalter Abscheu. „Hygienepolizei“, wiederholte der Mann und trat ein paar Schritte zurück. Im gleichen Augenblick ertönte schrill der Lorca Alarm. Rina erwachte aus der Trance. Jetzt blieben ihr noch höchstens zwei Minuten.

Sie fauchte wild, so als sei sie besessen. Es half. Die Menschen erschraken, wandten sich ab und rannten panisch davon. Rina nutzte die Gelegenheit und setzte zum Sprint an. Niemand würde sie packen oder aufhalten, denn sie alle waren davon überzeugt, dass sie krank wurden, sobald sie einen Lorca berührten. Zu glauben, dass jemand wie Rina eine todbringende Krankheit übertrug, ersetze den Glauben an einen Gott. Niemand bemerkte, dass diese Krankheit gar nicht existierte.

Rinas Beine trugen sie aus dem Laden heraus, die Brücke von Oberstadt entlang. Sie war schnell und wendig und sah niemals zurück. Ihr Weg führte sie die Treppe hinunter nach Mittelstadt, wo sie in einer Gasse verschwand, während der Alarm bedrohlich an und abschwoll.

Dort lief sie zu einem leicht geöffneten Kellerfenster. Bevor sie in den Keller abtauchte, sah sie sich um. Niemand war ihr gefolgt. Hastig zog sie die Jacke aus, steckte sie als erstes durch das Fenster und folgte ihr dann. Drinnen war es dunkel und staubig. Sie schloss das Fenster hinter sich und atmete einmal tief durch. Sie war entkommen.

***

Es war ein ungewöhnliches Weihnachtsfest. Fünf junge Menschen mit ungewöhnlich heller Haut und golden glänzenden Augen saßen um eine Ölkerze herum, aßen Kekse und tranken Kakao. Es gab keine Tannenzweige, keine Lebkuchen, keinen Weihnachtsschmuck und keine Geschenke, doch sie hatten einander. Es war kein Vergleich zu jenen Festen, die Rina aus ihrer Kindheit kannte, aber das war nicht wichtig. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich lebendig. Sie erzählte den anderen Weihnachtsgeschichten im Flüsterton und sie klebten an ihren Lippen. Jeder von ihnen war jünger als sie, jeder in Red-Mon-Stadt geboren. Sie alle hatten etwas verloren, nur das Leben war ihnen geblieben. Rina malte mit Worten Bilder von Häusern, bedeckt mit Puderzuckerschnee, einem Mann in rotem Mantel und einem weißen Bart, der nachts an die Tür klopfte. Was sie in der Dunkelheit hatten, war eine zerbrechliche Gemeinschaft. Es war ein Licht im Dunkel, denn sie hatten einander und sie würden nicht aufgeben. Egal, wie feindlich die Welt war, in der sie lebten. Denn irgendwann würden auch sie geborgen sein, geliebt werden und keine Angst mehr haben. Sicher. Ganz sicher …


Die Kurzgeschichte ist ein Szene aus meinem derzeitigen Romanprojekt Hurt No One. Wer von euch mehr darüber wissen will, schaut einfach mal HIER vorbei.


Beitragsbild von flickr.com

Gedanken-Mix

Wo die Muse hinfällt

Liebe Leser,

im September habe ich in einer Kurzgeschichtensammlung von 84 Autoren die geisterhafte Kurzgeschichte „Kristallene Realität“ veröffentlicht. Als nachträgliches Nikolausgeschenk veröffentliche ich sie heute auf meinem Blog. Kurz zusammengefasst geht es um einen Künstler, dessen Muse nicht so ganz das macht, was er möchte. Zu behaupten, sie sei ein wenig störrisch, ist da noch untertrieben, denn sie macht, was sie will. Viel Spaß beim Lesen und wie immer: Bei Verdauungsproblemen mit der Kost, wendet euch vertrauensvoll an die Autorin. Eine gute Woche wünsche ich euch.


Prota_Mika
Die Muse

Mein Herz explodierte, denn die Frau vor mir war keine meiner irren Fantasien, sondern kristallene Realität – obwohl „real“ in meinem Fall so oder so eine Frage der Definition war. Und in diesem teuren Fünf-Sterne Hotel mit Satin-Gardinen und Gold bestickten Couchgarnituren fühlte sich ihr Lächeln so real an wie kaltes Wasser auf nackter Haut.

„Du hast ihn umgebracht“, sagte sie und ihre Puppenaugen blinzelten. Dabei berührten ihre Wimpern die tellergroßen Brillengläser und hinterließen schwarze Schlieren auf dem Glas. Sie hatte Katzenpupillen und ihr Mund war so groß wie eine zwei Euro Münze. Wenn sie sprach, hob sie die Oberlippe nur einen Millimeter an und trotzdem flüchteten Worte darunter hindurch. Ich schluckte.

„Er hat mich von der Arbeit abgehalten“, verteidigte ich mich und spürte die Reste meines Herzens wild schlagen. Ihr Anblick machte mich verrückt. Ihre zarte Gestalt mit der schneeweißen Haut und der azurblauen Kutte auf der vorn am Reißverschluss ein Menschenauge thronte. Ein echtes Menschenauge. Blickte sie in eine bestimmte Richtung, dann glotzte es mit. Ich wandte mich dem Schreibtisch zu.

„Du wolltest ihn nicht mehr haben“, sagte sie und ich hörte, wie sich der Stoff um ihren Körper bewegte. Steife Wolle auf schneeweißer Haut. Sie kam zu mir, stellte sich hinter mich, blickte mir über die Schulter. „Du hast zu ihm gesagt, er soll verschwinden und dann ist er gesprungen.“

Ich ignorierte ihre Worte, spürte Gänsehaut auf meinen Armen und zog meinen Skizzenblock hervor. Ich musste die Zeit nutzen, die mir mit ihr blieb. Meine Finger zitterten.

„Wirst du mich auch umbringen?“, fragte sie und die Haut auf meinen Wangen begann zu glühen.

„NEIN!“, schrie ich und drehte mich zu ihr um. Verwundert wich sie zurück. Das Menschenauge glotzte. „Nein, nein, nein! Hör auf, so einen Unsinn zu reden. Ich brauche dich.“

„Ach so“, sagte sie leise, hob ihre Hand und begann, nervös an ihren Fingern zu knabbern. Sie sah verloren aus, wie sie in dem geräumigen Zimmer stand, umgeben von lauter Luxus und Prunk. Ihre Gestalt passte viel besser in eine Galerie, auf ein Gemälde mit Ölfarben. Ich liebte sie. Auch das war Realität. Mein Herz klopfte.

„Und die anderen?“, flüsterte sie. „Ich möchte nicht allein sein.“

„Jetzt hör schon auf damit! Es ist meine Entscheidung, wer mir nutzt und wer nicht. Ihr kommt und geht in ständigem Wechsel. Das ist ein Kreislauf, den man nicht durchbrechen kann. Wenn ich morgen überfahren werde, bist du auch allein.“

„Hm“, machte sie, „dann werden sie alle weinen, die Menschen, die dich bewundern, und mit denen du immer sprichst, während wir uns verstecken müssen.“ Sie sagte es mit Vorwurf in der Stimme. „Ich würde auch gern mal mit ihnen sprechen.“

Ich atmete tief durch und raufte mir die Haare. Natürlich wollte sie mit ihnen sprechen, aber das konnte ich nicht erlauben. Diese Menschen, die nur an meinem Ruhm interessiert waren, würden sie stehlen und für sich verwenden.

„Ja, ja, ich weiß schon. Bist du deshalb hier?“

Sie musterte mich mit ihren drei Augen und schüttelte den Kopf. Das kurze, goldgelbe Haar bewegte sich im Takt und glänzte im Sonnenlicht rötlich. „Ich bin wegen ihm hier. Weil du ihn umgebracht hast. Das weißt du doch.“

Ich stöhnte, denn natürlich wusste ich das. Wie viele Stunden war es her, seit ich ihm den, wie nannte man das, Laufpass gegeben hatte? Ein paar vermutlich. Sein geschocktes Gesicht war mir noch deutlich vor Augen. Die Knopfaugen, der kindliche Körper, selbst der verdammte Hut, der stets gewippt hatte, ohne dass sich der Junge bewegte, war erstarrt. Ich wusste, einem Kind durfte man nicht wehtun, aber ich hatte es trotzdem getan. Die Flinte angelegt, gezielt und ihn erschossen, weil mir ihre Anwesenheit lieber war. Ich hatte sie vermisst.

„Warum verschwindest du auch immer?“, fragte ich sie und sie hockte sich hin, zog mit ihren Fingern Kreise auf dem Boden.

„Ich bin eben nur da, wenn es nötig ist.“

„Es ist immer nötig!“

„Nein.“

„Doch“, protestierte ich und mir traten Tränen in die Augen. Sie war mein Leben, aber sie kam und ging, wann sie wollte. Ohne sie fiel mir das Atmen schwer, ich konnte mich nicht konzentrieren, meine Arbeit nicht vernünftig machen. Der Junge war ein Ersatz gewesen und er hatte einige Monate geholfen, aber nun brauchte ich sie so dringend wie ein Mörder seine Waffe. Nichts funktionierte mehr. Ich war ohne sie völlig allein. „Bleib hier, für immer“, murmelte ich, doch sie schüttelte den Kopf.

„Du brauchst mich nicht immer. Dann werde ich langweilig“, sagte sie und lächelte. „Wenn es nötig ist, bin ich da. Sonst musst du dir jemand anderen suchen. Aber töte sie nicht, es tut dir weh und am Ende musst du weinen.“

Ich schluckte den Schmerz herunter, unterdrückte meinen inneren Protest. Dann kam sie zu mir, gab mir einen Kuss auf die Wange. Es fühlte sich heiß an, dort wo sie mich berührte. Ihre zarten Lippen waren wie Wundsalbe. Ich schloss die Augen und als ich sie öffnete, sah ich, wie sie ging. Nicht wie normale Menschen durch die Tür, sondern durch die Fensterfront. Dann verschwand sie. Vermutlich für eine lange Zeit.

Erschöpft sank ich auf meinem Stuhl zusammen. Es juckte mich in meinen Fingern. Tausend Bilder rasten durch meinen Kopf. So war es immer, wenn sie auftauchte. Rasch wandte ich mich dem Tisch zu. Der Skizzenblock lächelte. Ich nahm einen Stift hervor und begann zu zeichnen. Strich um Strich fügte sich aneinander. Schon lange war es nicht mehr so leicht gewesen.

Sie war eine meiner vielen Musen, aber sie kam nur manchmal zu mir. Nur manchmal, wenn ich eine andere Muse aufgab oder verlor und verzweifelt auf das leere Blatt starrte.

Manche sagten, ich sei verrückt, aber Kunst funktioniert nur so. Mit dem Verrücktsein verdiente man Geld und ich war ausgezeichnet darin, besonders wenn ich sie zeichnete. Alle liebten die Frau mit den Katzenaugen und dem azurblauen Umhang, der wie ein Federkleid ihren Körper schmückte. Sie war ein Teil von mir, ein Teil meiner ureigenen Realität.


Beitragsbild: Mika M. Krüger

Gedanken-Mix

Schnappschuss?

… ein Zitat, ein Genre, 1.000 Wörter …

GoldhausInsta

Es ist ein Fachwerkhaus mit zementgrauen Steinen und schokobraunen Holzbalken. An der Fassade wächst Moos und Pflanzen kämpfen sich wie Bergsteiger bis zur Dachspitze hinauf. Der Wind streichelt die Blätter. Das Orange der untergehenden Sonne lässt das Bild sanftmütig erscheinen. Es ist perfekt.

Ich lege den Finger auf das Kamerasymbol meines Touchscreens. Kurz zuckt das Bild, dann ertönt ein Klick. Ein Foto ist für die Ewigkeit gebannt. Ich fühle mich wie ein Starfotograf vom National Geographic. Klar, es ist kein Tier auf dem Bild und auch kein Mensch, der Wert des Fotos lässt sich trotzdem nicht leugnen. Ein verlassenes Haus inmitten von goldenen Ären bei Sonnenuntergang, wenn das kein Schnappschuss ist. Der Titel könnte lauten „Einsam im Gold“ oder doch besser „Die Natur holt sich zurück, was ihr gehört“. Letzteres drückt Dramatik aus. Mit diesem Bild könnte ich einen Preis gewinnen. Dann zerplatzt mein Traum.

„Musst du immer Fotos machen? Kannst du nicht einfach mal dein Handy in der Tasche lassen? Die Fotos sind doch eh diletantisch. Wenn du ein vernünftiges Bild machen willst, dann brauchst du eine Spiegelreflexkamera und musst auf ganz viele Details achten. Zum Beispiel …“

Natürlich muss sie immer meckern. Eben wollte ich mein Meisterwerk und meine Freude daran noch mit ihr teilen, jetzt hat sie Pech. Von wegen Licht und Winkel und bla. Der Moment zählt. Das Gefühl zählt.

Ich öffne meinen Instagram Account, lege über das Bild einen sonnengoldenen Filter und tippe den Naturslogan in das Beschreibungsfeld. Ich poste den Beitrag und bekomme in Sekunden einige Likes, während sie weiter darüber lamentiert, dass die Internetwelt aus uns Selbstdarsteller macht, die im Großen und Ganzen zum Scheitern verurteilt sind. Ich lasse sie reden. Hier ein Like zu dem Foto, dort ein Like zu einem anderen Foto. Es macht Spaß, denn für jede gute Tat, bekomme ich etwas zurück. Wenn ich mit ihr das Foto teile, schenkt sie mir eine Moralpredigt. Und sind wir doch mal ganz ehrlich, meine dreihundert Follower zeigen glasklar, dass ich Talent habe. Denn Talent lernt man nicht, das besitzt man.

„Hey“, ich spüre einen Knuff in der Seite und sehe auf. „Hörst du mir zu?“

„Hab grad was Wichtiges geschrieben“, lüge ich. Sie rollt mit den Augen, sagt jedoch nichts mehr. Weil ich merke, dass die Situation zu eskalieren droht, stecke ich mein Handy weg. Kaum ist es in der Tasche, juckt es mich überall. Ich male mir aus, was alles passiert, während ich nicht auf das Display schaue. Die Welt könnte untergehen und ich erfahre als letzter davon. Ich kaue auf meiner Lippe herum.

Sie läuft zu dem Fachwerkhaus und schaut zum Dach hoch. Ihr klinisch weißes T-Shirt und die dunkelblaue Shorts passen so gar nicht zu dem Sonnenuntergang und noch weniger zu dem Haus. Kein gutes Motiv.

„Da ist ein Nest“, sagt sie und hat doch mein Interesse. Ich stelle mich neben sie und sehe nach oben. Sie hat Recht. Unter dem Dachstuhl ist ein Schwalbennest. Kleine Vogelköpfchen schauen durch eine schmale Öffnung ins Licht und schreien nach Futter. Dieses Mal hätte ich Tiere auf dem Bild. Das passiert nicht oft.

„Dass dir sowas immer auffällt“, sage ich beiläufig, hole mein Handy aus der Tasche, das inzwischen brennt wie Feuer und fotografiere die kleinen Vögel mit ihren aufgerissenen Mäulern. Es ist unscharf und viel zu dunkel. Aber ein guter Fotograf macht aus jedem Motiv ein überzeugendes Bild. Ich probiere es noch einmal und noch einmal. Nichts ändert sich. Auch dann nicht, als ich etwas näher heranzoome.

„Mist, ich krieg’s nicht ordentlich auf die Kamera.“ Sie sagt nichts, sieht mich einfach nur stumm an. Die Lippen zu einem Unterstrich geformt. Ich ignoriere es und will gerade das Handy zurück an seinen Platz stecken, als sie es mir aus der Hand reißt.

„So, es reicht jetzt echt. Wir sind dreißig Minuten unterwegs und du hast selbst die Hundekacke auf dem Weg fotografiert.“ Da hatte sie Recht. Aber nur, weil sie genau neben einem dieser Hier-Kein-Mist-Erwünscht-Schilder lag. Wer das nicht urkomisch findet, dem ist nicht mehr zu helfen.

Sie findet es nicht komisch.

„Es war lustig“, verteidige ich mich. „Jetzt sei nicht so ein Spießer.“ Das ist zu viel. Ich sehe die Wut in ihrem Gesicht explodieren wie eine Bombe auf Festland. Trotzdem sagt sie nichts. Starrt mich einfach nur an. Sekunden verstreichen, in denen ich zu lächeln versuche. Entwaffnend, damit sie ihre Dummheit einsieht. Natürlich sieht sie gar nichts ein. Sie hat ihren eigenen Kopf und rennt los.

„FANG MICH DU IDIOT!“, schreit sie und winkt mit mir mit dem Handy in der Hand zu. Also renne ich los.

„Gib mir mein Handy zurück. Das hat über sechshundert Euro gekostet.“ Doch der Appell an ihre Vernunft hilft nicht. Sie rennt einfach weiter und ich habe das Nachsehen, denn sie ist schneller als ich. Wie ein Hase auf der Flucht schlägt sie Haken, trickst mich aus und ich komme mir vor wie der lahme Wolf, der vergebens sein Fressen jagt. Schon nach kurzer Zeit bin ich völlig am Ende, während sie noch Puste für die nächsten zehn Kilometer hat.

Irgendwann hole ich sie ein. Sie steht an einem Bach. Die Hände in die Seite gestützt.

Ich erstarre zu Eis.

„Das hast du nicht gemacht?“

Sie dreht sich zu mir und ein verschmitztes Lächeln huscht ihr übers Gesicht. „Doch, hab ich.“ Ich glaube ihr, bin fassungslos, schockiert. Ich könnte heulen, sie anschreien, aber ich bleibe völlig ruhig, sehe sie grinsen und denke mir, dass es nicht so schlimm ist. Alle Daten sind eh online gespeichert. Irgendwo. Das Handy kaufe ich mir einfach neu. Nur für den Urlaub und das waren zehn Tage, wäre ich offline. Das ließ sich ertragen, oder?

Meine Sucht hatte ich unterschätzt. Wir stritten in den ersten Tagen nur, dann konzentrierte ich mich auf das Wesentliche. Sah mir die Umgebung an, entdeckte mich neu. Mir war nicht klar gewesen, dass sich die Welt ohne Kameralinse genauso speichern ließ. Offline, in meinem Kopf.

schwalbenbabys
Und in etwa so diletantisch könnt ihr euch das Schwalbenfoto vorstellen …

Anmerkung:

Und wer fühlte sich bei dem Text ertappt? Nicht sauer sein. Ich hab mich selbst auf die Schippe genommen. Bin ja auch ganz schön abhängig geworden von meinem Z3. 🙂

Das Zitat zu dieser Kurzgeschichte stammt aus einem Blogbeitrag „Fünf schnelle Wege, deine Fotos zu verbessern“. Es steht unter Tipp #1:

When we’re taking photos on the fly, it doesn’t really occur to us to ensure that we have a technically-pleasing composition. (freie Übersetzung: Wenn wir Fotos unterwegs machen, kommt es uns nicht wirklich in den Sinn, sicherzustellen, dass wir eine technisch hervorragende Komposition erhalten.)

Ihr merkt schon, dass ich nicht den genauen Wortlaut benutzt habe, sondern das Zitat eher inhaltlich aufgearbeitet habe. Wer sich für Fotografie interessiert, kann sich den Beitrag von Jen H. gerne anschauen. Ich als Hobbyfotografin fand ihn sehr interessant.

Bis dahin

+ Mika +

PS: Das Haus auf dem Foto habe ich bei einer Wanderung geschossen, ohne Spiegelreflexkamera, aber mit Nikon Coolpix. Zu Hause hab ich dann etwas mit Photoshop und Filtern nachgeholfen. Zu den Schwalbenbabys äußere ich mich nicht … und nein, es gibt KEIN Hundehaufenfoto … oder?

Aktuelles

News: Anthologie veröffentlicht!

pause
Ihr habt Pause und sucht kurze und leicht verdauliche Literatur, dann könnt ihr ab jetzt das ebook Kurze Geschichten für Zwischendurch lesen.

Es ist soweit! Nach vielem Hin und Her, etlichen Korrekturen und mühseliger Arbeit beim Erstellen des ebooks ist nun unsere Anthologie „Kurze Geschichten für Zwischendurch“ erschienen. 84 Autoren haben sich zusammengerauft und Kürzestgeschichten in einem Buch veröffentlicht. Jeder in seinem eigenen Stil, jeder mit seinen eigenen Vorlieben. Von Chick-Lit über Thriller und Co. bis hin zu Fantasy ist in diesem ebook alles vertreten. Und das Ganze gibt es auch noch völlig kostenlos in allen Online-Shops. Wer also Lektüre für eine kurze Fahrt mit der Bahn, die Zeit im Wartezimmer oder andere Gelegenheiten sucht, der kann in der Kurzgeschichtensammlung ein bisschen schmökern. Und wer weiß, vielleicht findet ihr sogar den ein oder anderen Autor von dem ihr gern etwas mehr wissen würdet.

Cover_KurzeGeschMeine Kurzgeschichte Kristallene Realität findet ihr am Ende des Buches. Es ist eine Geschichte über einen verrückten Künstler und seine ganz eigene Muse. Und übrigens … nur weil mein Name ganz am Ende steht heißt das nicht, dass die Geschichte schlechter ist als die anderen, es bedeutet nur: Ich habe länger gebraucht, um sie einzureichen. 😛

Viel Spaß beim Stöbern!

Alle Links zu den Shops gibt es hier:

Euch noch eine schöne Restwoche! + Mika +

PS: Ich weiß, Werbung stinkt, aber manchmal muss es eben sein.

Aktuelles

News: Veröffentlichungen


Gewöhnlich schreibe ich Romane. Allerdings hat das einige Nachteile, denn bei langen Texten kann es schon mal vorkommen, dass man die Lust am Schreiben verliert. Vielleicht, weil man zweifelt oder sich aber eine Schreibblockade anbahnt. Damit ich den Spaß am Schreiben nicht verliere, verfasse ich deshalb regelmäßig Kurzgeschichten. Ein paar habt ihr schon auf dieser Seite gelesen, andere werden demnächst in ebooks zu finden sein. Welche genau, seht ihr hier:

In der Anthologie Kurze Geschichten für Zwischendurch haben 84 Autoren Kürzestgeschichten verfasst, die sich wie ein Coffee2Go in jeder Bahn, im Wartezimmer oder andernorts zügig lesen lassen. Meine Mystery-Kurzgeschichte „Kristallene Realität“ wird dort zu finden sein. Die Veröffentlichung ist voraussichtlich im September oder Oktober.Cover_KurzeGesch

Außerdem erscheint kurz vor Halloween die Anthologie „Bloody Qindie“ der Autorengruppe Qindie. Dort findet ihr gruselige oder auch blutige Geschichten verschiedener Autoren. Meine Kurzgeschichte „Zähl bis zum Tod“, die einen Japanbezug hat und auf der Legende des Geists Okiku basiert, wird dort zu finden sein.

Prota?
Für die Geschichte „Zähl bis zum Tod“ habe ich einige Zeichnungen der Protagonistin angefertigt. Leider sieht die Frau auch auf diesem Bild nicht aus wie eine Japanerin.

Ob es dann noch eine weitere Veröffentlichung gibt, entscheidet die Jury der Kurzgeschichtenreihe „Buchperlen“. Dort habe ich den Mystery-Horror Beitrag „Herzlos“ eingereicht und warte gespannt, ob die Geschichte im Buch erscheinen wird oder nicht. Das vorläufige Cover habe ich erst kürzlich fertiggestellt und war etwas skeptisch. Eigentlich wollte ich nicht wieder Rot und Schwarz auf dem Bild haben. Ich hoffe, es gefällt euch trotzdem.

Herzlos_Cover2

Danke für euer Interesse! Bis dahin.

+ Mika +

Anmerkung: Das Titelbild von „Herzlos“ ist Mithilfe einer Fotografie von fjellstrom erstellt worden. Damit es zur Geschichte passt, wurde es verändert.