Red-Mon-Stadt, Schreibarbeit

Rina Morita: zwischen Flucht und Mut

Vor einiger Zeit habe ich hier auf dem Blog meinen Protagonisten Neel Talwar vorgestellt. Es wurde heftig diskutiert, ob er als Hauptperson überhaupt etwas taugt oder nicht, da er auf den ersten Blick nicht gerade ein Sympathieträger ist. Ich war daher erleichtert, mich entschieden zu haben, ihm erst nach einem Drittel des Romans eine Stimme zu geben. Davor wird die Geschichte aus der Perspektive von zwei anderen Personen geschildert. Eine von ihnen ist Rina Morita. Eine junge Frau, die verfolgt wird, jeden Menschen, den sie liebt, verloren hat und nie weiß, ob sie den nächsten Tag übersteht. In diesem Beitrag werde ich versuchen, sie euch näher vorzustellen und bin gespannt, was ihr zu sagen habt. Lasst euch ruhig aus. Ich freue mich über jeden Kommentar.


Rinas Überlebensformel

Damit ich mich auf die Figuren in meinen Projekten richtig einlassen kann, mache ich mir in einem allerersten Schritt Gedanken über ihren Grundkonflikt. Daraus entwickle ich dann ein Motto, welches sich in einem Satz zusammenfassen lässt. Rinas Motto ist eines, das durch ihre Angst geprägt ist: Flucht ist der einzige Weg, um am Leben zu bleiben. Weshalb sie an einer Überlebensformel festhält, die sie im ersten Kapitel bereits erwähnt. Es geht immer nur vorwärts, niemals zurück. Was bedeutet das im Detail? In der Welt von Red-Mon-Stadt zählt Rina zu einer unerwünschten Minderheit (Lorca). Ihnen wird unterstellt, sie hätten eine Krankheit, die wie die Pest zum Tod führt. Tatsächlich ist dies nur ein Ammenmärchen, doch es reicht, um die ganze Stadt gegen die Lorca aufzuwiegeln. Da alle Lorca sehr helle Haut und eine ungewöhnliche Augenfarbe haben, lassen sie sich noch dazu leicht erkennen. Und als im Jahr 2070 die Lorcaausdünnung beginnt, verliert Rina nach und nach jeden, der ihr wichtig war. Überleben konnte Rina nur, weil sie sofort davonläuft, wenn sich eine Tragödie andeutet. Deshalb lässt sie sich nicht auf andere Menschen ein und distanziert sich stark von dem, was um sie geschieht. Dass sie damit natürlich nicht durchkommt, sollte klar sein. Irgendjemanden braucht man immer an seiner Seite.

Ihre Rolle im Roman

Rina ist die Figur zwischen den Stühlen. Sie ist auf niemandes Seite und möchte im Grunde nur eins: Dass niemand mehr sterben muss. Im Gegensatz zu Neel Talwar dem korrekten Soldaten und der Rebellenfigur Tom Lichterfeld folgt sie keinen idealistischen Prinzipien, ist sehr sprunghaft in ihren Entscheidungen und ja, teils emotional.  Vielfach kann sie ihre Entscheidungen nicht einmal selbst erklären, was sie sicherlich zu der Figur macht, deren Verhalten am schwierigsten nachzuvollziehen ist. Rina ist jedoch die authentischste Erzählfigur in Silver Coin 203. Sie braucht keine Scheinidentität, um andere zu beeinflussen, sondern ist einfach sie selbst. Ob das eine gute oder eine schlechte Eigenschaft ist, möchte ich jetzt nicht bewerten. Aber ihr solltet wissen, alle andere Figuren im Roman setzen an vielen Stellen eine Maske auf, um einen bestimmten Eindruck, in einer bestimmten Situation zu erzielen. Rinas Entwicklung von einer Frau, die niemanden mehr an sich heranlässt, zu einer Person, die erneut ihr Leben für andere riskieren würde, bestimmt ihre Erzählstimme.


Die Herausforderung, Rina zu schreiben

Rina ist häufig neben der Spur, weil sie sich in Erinnerungen verliert, die flashbackartig auftauchen und nicht mehr sind, als unsortierte Fragmente. Sie ist sehr sparsam mit Worten und hat einen melancholischen Redestil. Noch dazu ist sie niemand mit Einfluss, hat kein Netzwerk, ist im Grunde völlig allein. Sie ist nicht der Polizist, der logisch sein Vorgehen plant und Strategien austüftelt, denn das passt nicht zu ihrem Charakter. Ihr Vorteil besteht in ihrer Andersartigkeit, denn durch diese wird sie von den Rebellen besonders zuvorkommend behandelt und kann sich so einige Fehltritte erlauben, die sonst niemand toleriert hätte. Kurz um: Sie ist ein schwieriger Charakter. Und ich sehe schon, wie eure Augen größer werden. Erst Neel Talwar, der irgendwie widersprüchlich ist und jetzt auch noch so eine verschlossene Person? Wie passt das denn zusammen? Nun, ich wollte in meinem Projekt viele Facetten zeigen. Die vier Erzählfiguren sind sehr unterschiedlich und ergänzen einander. Auch wenn ich weiß, dass ich die Geduld meiner Leser mit einer Figur wie Rina herausfordere, bin ich überzeugt, die Geschichte fügt sich nur so richtig zusammen. Und am Ende des mehrteiligen Projektes wird auch klar sein, warum das so ist. Also hoffentlich, meine ich. Ähem.

Einige weitere Details über Rina

Wenn Rina nervös wird, juckt sie die Haut am Unterarm und sie fängt unterbewusst an, die Stelle aufzukratzen. Ob das jetzt eine schöne Eigenschaft ist oder nicht, darüber lässt sich natürlich streiten. 🙂

Rina macht sich nicht viel aus Schönheit. Was für sie zählt, sind innere Werte. Ganz besonders dann, wenn das Gegenüber Eigenschaften hat, die sie selbst nicht mitbringt.

Rina lebte ein Jahr lang mit einer Gruppe von Lorca in einer kleinen Wohnung, wo sie von einem alten Mann namens Viktor versteckt worden ist. Mit ihm hat sie oft in der Wohnung zusammengesessen und über alles und jeden gesprochen. Viele Dinge, die sie über Red-Mon-Stadt weiß, kommen eigentlich von ihm. In der Geschichte wird das zwar nicht thematisiert, war mir jedoch immer im Hinterkopf.

Wieso wollte ich über eine Frau wie Rina schreiben?

Ich muss gestehen, dass die allerersten Kapitel meines Projekts aus Neel Talwars Sicht entstanden sind und ich mir dann dachte, dass es so nicht funktioniert. Mir wurde bewusst, dass seine Geschichte nur dann interessant wird, wenn seine Motive im Dunkeln bleiben. Eine zweite Person musste her, die diese Motive herausfinden sollte. Das ist Rina. Und ich möchte an dieser Stelle sagen, dass ich sie für stärker halte als Neel Talwar. Warum? Weil sie sich selbst treu geblieben ist.


rina
Das sollte sich Rina wirklich zu Herzen nehmen: „Angst hat zwei Bedeutungen: Vergiss alles und lauf oder Stelle dich allem und wachse. Es ist deine Entscheidung.“

Dieses Mal stelle ich euch hier kein Interview vor, sondern werde euch ein kurzes Gespräch zwischen Rina und Viktor vorstellen, welches so nicht im Roman vorkommen wird, aber wohl in einer Zeit vor dem eigentlichen Buch stattgefunden hat. Rina und er befinden sich in der kleinen Wohnung, wo sich Rina mit anderen versteckt hält.

Der alte Viktor legte die Stirn in Falten und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Sein gutmütiges Gesicht strahlte eine Ernsthaftigkeit aus, die Rina selten an ihm sah.

„Wir müssen sehr vorsichtig sein“, sagte er. „Die Gruppe, die sie da geschnappt haben war so gut versteckt wie wir. Wenn nicht sogar besser. Einige von ihnen kannte ich persönlich. Es waren gute Menschen und sie haben geglaubt, es sei sicher.“

Er deutete er auf die Schlagzeile, die ihr vom Monotab ins Auge sprang: „12 Lorca von Totenläufer entdeckt und nach Safecity überstellt.“ Ein anderer Wortlaut für: tot.

„Er wird uns nicht finden. Wenn wir aufpassen, wird es schon irgendwie gehen“, sagte sie dann, obwohl sie wusste, dass dieser Mann jederzeit auftauchen konnte. Vielleicht sogar in dieser Sekunde. Dazu brauchte er nur den Verdacht haben, hier in der Wohnung sei jemand versteckt.

„Du meinst den Totenläufer?“, fragte Viktor und Rina nickte stumm. Er lächelte und legte seinen Arm um sie. Es war nicht unangenehm, wenn er das tat, obwohl sie sonst jede Berührung verabscheute. Sie legte den Kopf auf seine Schulter und für den Moment hingen sie beide ihren Gedanken nach. Wie gut es sich anfühlte, nicht allein zu sein.

„Was meinst du, was ist das für ein Mensch, der so etwas tut?“, sagte sie nach einer Weile und Viktors Antwort kam sofort: „Ein Monster Rina. Er ist ein Monster.“

„Ein Monster“, murmelte sie und dachte an all jene, die sie im Stich gelassen hatte. „Meinst du, ich hätte sie retten können?“, fragte sie nach einer Weile und er löste sich aus der Berührung, um sie ansehen zu können.

„Nein, das hättest du nicht, Rina. Du warst nicht diejenige, die abgedrückt hat, vergiss das niemals. Es ist diese Stadt, die uns alle umbringt.“

„Hm …“, machte sie nur und sah über seine Schulter hinweg durch die ausladende Glasfront, wo Wolkenkratzer an Wolkenkrazer stand und unten ein Gewimmel aus stecknadelgroßen Menschen von einem Ort zum anderen hastete. Wie lange hatte sie den Wind schon nicht mehr auf ihren Wangen gespürt? Ewigkeiten. Und wie lange würde es noch dauern, ehe sie ohne Angst durch die Straßen gehen konnte? Ewig-keiten.Beitragsbild aus Flickr.com von Elektrollart


Beitragsbild aus Flickr.com von Sean MacEntee

Quelle Zitat: The Chive