Gedanken-Mix

Happy Halloween

Ich wünsche allen ein schaurig-schönes Halloween. Ich werde es heute mit meinem Partner, Gruselfilmen, Pizza und Kürbisdekoration verbringen. Dieses Jahr hatte ich mal wieder Lust darauf, eine kurze Geschichte anlässlich meines liebsten Feiertags zu schreiben. Die Idee entstand im Jahr 2006 am Bahnhof meines Heimatdorfs und trug den Titel „Meavels Blatt“. Viel Spaß beim Lesen und kommt trotz Corona gut durch den November.

(Triggerwarnung: Verlust eines geliebten Menschen)

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Der seltsame Fall von Frau Herbst

„Frau Herbst, können Sie schildern, was sich gestern ereignet hat?“
Frau Herbst drückte nervös eine Tasche an ihre Brust und fixierte die Polizistin.
„Ja, das kann ich. Edgard wurde umgebracht von einem Mann mit einem Ahornblatt in der Hand.“ Frau Herbst verzog den Mund und dachte nach. „Sie müssen mir das glauben. Er wartete mit uns auf den Bus und stand da in lotteriger Kleidung und frechem Zopf. Er hat den nötigen Abstand eingehalten“, sagte sie mit Ehrfurcht in der Stimme. „Er sprach mich an, redete über das Wetter und sagte, dass sein Name Meavel ist. Herr Meavel aus was weiß ich wo, ich habe es vergessen. ‚Sie sind Frau Herbst, nicht wahr?‘, hat er gefragt und ich war so fasziniert von seiner ungezwungenen Art, dass ich bejahte. ‚Richtig, ich bin Frau Herbst.‘ Dann hat er genickt, als ob er etwas verstanden hat …“
„Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen? Sie sagten, er hatte ein Blatt in der Hand.“
„Ja, ein rotes Ahornblatt. Er hat es in der Hand gedreht wie einen Kreisel …“ Frau Herbst unterbrach die Erzählung und starrte kurz an der Polizistin vorbei. Dabei kräuselte sie die Stirn.
„Frau Herbst?“
„Entschuldigung. Ich war abgelenkt.“
„Was war mit Herrn Meavel?“
„Er reichte mir das Blatt und sagte: „Jedes Blatt findet im Herbst seine Ruhe auf dem Grund. Nehmen Sie es. Es gehört Ihnen.“ Ich weiß nicht wieso oder warum, aber ich habe es genommen. Natürlich ohne ihn zu berühren wegen der Übertragung der Viren. Sie wissen schon. Edgard sagte nichts. Saß nur da als ginge ihn das alles nichts an. Ihm hatte der Film nicht gefallen, den wir gesehen haben und deshalb war er stumm wie ein Fisch … Er … konnte so stur sein …“
„Und dann?“
Frau Herbst atmete tief durch und redete hastig weiter.
„Herr Meavel ging zu Edgard und hielt eine Hand über seinen Kopf. ‚Was tun sie da?‘, fragte ich. Dann geschah es. Ich sah es mit eigenen Augen. Edgards Körper wurde dünn und flach. Seine Haut färbte sich aschgrau und wurde spröde wie Altpapier. Als er nur noch ein Strich war, ein dünner Bleistiftstrich, formte sich unter Herr Meavels Hand ein neues Ahornblatt. Einfach so und wunderschön wie jenes in meiner Hand.“
„Das heißt, Edgard ist verschwunden.“
„Er ist tot. Sie haben es doch gehört, jedes Blatt fällt zu Grunde.“
Die Polizistin wandte sich vom Bildschirm ihres Rechners ab und musterte Frau Herbst eindringlich. „Frau Herbst, kann es nicht sein, dass ihr Mann sie verlassen hat?“
„Nein! Herr Meavel hat ihn getötet. Himmelherrgott, suchen Sie nach ihm und verhaften Sie ihn.“
„Wir können niemanden verhaften, der Menschen verschwinden lässt, Frau Herbst.“
„Aber er hat es getan, er hat Edgard umgebracht.“ Frau Herbst schniefte und die Polizistin reichte ihr ein Taschentuch. „Ich kümmere mich um alles. Jetzt sollten Sie erstmal nach Hause gehen und sich ausruhen.“
„Aber … er war da. Hören Sie doch … Ich konnte nicht wissen, dass er … ihn umbringt.“
Die Polizistin beruhigte Frau Herbst so gut es ging und ließ sich das Protokoll zur Aussage unterschreiben. Dann bat sie einen Kollegen Frau Herbst nach draußen zu begleiten. So etwas Absurdes hatte sie noch nicht gehört. Ohne Umschweife kehrte sie an ihren Schreibtisch zurück und wollte gerade einen Eintrag im Dienstplan machen, als sie auf ihrem Tisch ein rotes Ahornblatt entdeckte. Die kräftigen Farben wirkten beinahe irreal. Sie strich mit dem Finger über die Oberfläche und im selben Moment betrat jemand das Zimmer.
„Hallo“, sagte ein Mann in lotteriger Kleidung. „Ich bin Herr Meavel, sind Sie Frau Winter?“

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Quelle Beitragsbild: Depositphotos
Inspiration Titel: Der befremdliche Fall von Dr. Jekyll and Mr. Hyde

Japan

Die Legende des Yūrei-Daki

Japanische Geistergeschichten erfreuen sich in der modernen Popkultur größter Beliebtheit. Immer wieder werden sie zum zentralen Thema von Gruselgeschichten und nicht selten verlegen Autor*innen ihren Handlungsort sogar nach Japan. Zwischen 2013 und 2014 besuchte ich an der japanischen Dokkyō Universität ein Seminar über japanische Geister (Yūrei 幽霊). Wir sprachen über Definitionen, Kunst und die Originalgeschichten. Im englischen Sprachraum gibt es eine Vielzahl an Publikationen zum Thema und reichlich Übersetzungen von Legenden aus dem Japanischen. Der deutsche Sprachraum hat da eher wenig zu bieten. Dieser Blogbeitrag wird sich mit einer von vielen Geschichten beschäftigen, der Legende des Yūrei-Daki. Zuerst stelle ich die Geschichte vor, dann gibt es noch ein paar interessante Details und etwas Wortanalyse. Da es sich um eine schaurige Geschichte handelt, kann dieser Beitrag für Manche schockierend sein.

Die Legende

Die Geschichte des Yūrei-Daki ist zuerst 1925 im deutschen Sprachraum erschienen. Der Autor ist Lafcadio Hearn, der auch unter dem japanischen Namen Yakumo Koizumi bekannt ist. Er ist Ende des 19ten Jahrhunderts nach Japan eingewandert und hat dort durch Heirat die japanische Staatsbürgerschaft erlangt. Was insofern relevant ist, da er die japanischen Legenden vor Ort erfasst hat und nicht etwa aus dem Japanischen übersetzte.

In der Legende des Yūrei-Daki geht es um eine Gruppe von Arbeiterinnen, die nach einem anstrengenden Arbeitstag in der Hanffaktorei um einen Kohlekessel herumsitzen und sich gegenseitig Gruselgeschichten erzählen. Im Verlauf des Abends fordern sie sich gegenseitig zu einer Wette heraus. Wer von ihnen sich traut, zum Yūrei-Daki zu gehen, bekommt den gesamten versponnenen Hanf des Tages von allen Frauen geschenkt. Als Beweis soll die Opferbüchse vor dem Schrein am Wasserfall mitgebracht werden. Eine junge Frau (Okatsu Yasumoto), die einen zweijährigen Sohn hat, nimmt die Wette an und macht sich auf den Weg zum Wasserfall. Dort angekommen, wird sie vom Gott mit drohender Stimme angesprochen, als sie die Opferbüchse an sich nehmen möchte. Doch sie hört nicht auf die Drohung, stielt die Büchse und läuft eilig zurück zu den anderen Frauen. Ohne weiteren Schaden kehrt sie zurück und wird für ihren Mut gelobt. Das Grauen befindet sich jedoch auf ihrem Rücken. Ihrem Kind, das sie mit Tragetüchern auf dem Rücken trägt, fehlt der Kopf.

Details zur Geschichte

Auffällig ist, dass zu Beginn von dem Schrein eines Gottes (kami) am Wasserfall die Rede ist. Was natürlich passt, denn Opferbüchsen (Holzkästen mit Schlitzen auf der Oberseite) stehen nur vor Schreinen oder Tempeln* und diese werden für Gottheiten errichtet. Man stellt sich für gewöhnlich in etwas Abstand davor und wirft eine Münze hinein, danach klatscht man in die Hände, verbeugt sich und äußert in Gedanken einen Wunsch, der bestenfalls zur Gottheit passt. Man wünscht sich gute Leistungen in einer Prüfung, Gesundheit oder Glück in der Liebe. Die Münze ist die Opfergabe und das Klatschen erregt die Aufmerksamkeit. Gottheiten müssen dabei nicht zwingend sanftmütig oder gut sein, sie haben tatsächlich relativ menschliche Eigenschaften. Es gibt Schreine, in denen hängen zum Beispiel verschiedene Glocken und Gegenstände, da die Gottheit sehr verspielt ist. Das heißt, das Geisterhafte in der Geschichte ist nicht etwa der Gott selbst, der Okatsu anspricht, sondern der nächtliche Kontext, die gruselige Szenerie sowie der Wasserfall selbst. Und der Gott bestraft Okatsu für ihr unmoralisches Handeln.

Interessant ist auch, dass es den besagten Wasserfall tatsächlich gibt. Er befindet sich in der Präfektur Tottori (südwestliches Japan) und kann über google Streetview betrachtet werden. Es handelt sich um einen mehrere Meter hohen Wasserfall, der im Nebel sicher schaurig aussehen kann und dessen herabstürzendes Wasser im Dunkeln wohl furchteinflößend klingt. Auch den besagten Schrein aus der Geschichte seht ihr auf einem Foto. Inzwischen heißt der Wasserfall allerdings anders: Ryūō-Taki (竜王滝 ), des Drachenkönigs Wasserfall. Wer Chihiros Reise ins Zauberland gesehen hat, weiß, dass Flüsse oft mit Drachengottheiten in Verbindung gebracht werden (schlangenartiger Lauf etc.).

Ein bisschen Japanisch

Nun noch etwas Japanisch. Der vollständige Titel aus dem Japanischen heißt 幽霊滝の伝説 (Yūrei-daki no densetsu). Er setzt sich aus zwei Substantiven und einem Partikel zusammen. Ich möchte die sechs Zeichen kurz aufschlüsseln und eine Übersetzung anbieten. Ihr seht zuerst die Zeichen des Wortes, dann die Lesung, die Wortart und zum Schluss eine mögliche Übersetzung.

幽かに (kasukani) Adjektiv – leise, verschwommen, in diesem Fall vermutlich vage, schattenhaft, verschwommen
霊 (rei / tama) Substantiv – Seele, Geist
滝 (taki) Substantiv – Wasserfall, aufgrund des Vokals wird das „t“ hier zu einem „d“
の (no) Partikel – zeigt den Besitz an und würde im Deutschen dem Genitiv „des …“ entsprechen
伝説 (Densetsu) Substantiv – Legende

Wie hier zu sehen ist, besteht das Wort Geist (yūrei) eigentlich aus zwei Wörtern. Nämlich aus vage und Seele. Das leuchtet ein, denn in der bildlichen Darstellung von japanischen Geistern sieht man häufig auch eine Seele, als Flamme stilisiert, neben den Geistern schweben.

Oben links ist die Flamme zu sehen. Das Bild zeigt Oiwa aus dem Theaterstück Yotsuya Kaidan.
Künstler: Shunkosai Hokushu

Ich vermute, die Idee des Vagen rührt daher, dass man bei Yūrei grundsätzlich davon ausgeht, die Seele eines verstorbenen Menschen hätte nicht in die Totenwelt gefunden. Sie irrt/wankt in einer Art Zwischenwelt herum. Wir würden sagen, es handelt sich um eine verirrte Seele. Wörtlich übersetzt heißt der Titel der Geschichte damit einfach nur: Des Geister-Wasserfalls Legende.

Weitere Beiträge über Geistergeschichten: Die Legende von Okiku

Quellen und Anmerkungen:

*Schreine gehören zum Shintoismus, Tempel zum Buddhismus.
Japan Life and Religion
Japanische Textversion
Lafcadio Hearn: Japanische Geistergeschichten, Anaconda Verlag, 2013.
Wörterbuch Japanisch-Deutsch Wadoku