Gedanken-Mix

Ein biegsames Herz

… ein Zitat, ein Genre, 1.000 Wörter …

Biegsames Herz

Ich betrachte sein aschfahles Gesicht und weiß, es ist zu spät. Diese Tatsache tötet mich, reißt mich in Stücke. Es ist nicht fair, denke ich, aber die Welt in der wir leben kennt keine Gerechtigkeit. Nur schneidend saure Bitterkeit.

„Ich muss gehen“, sagt er. Ich stehe am Holztisch und muss mich abstützen, sonst stürze ich, falle tot um, wache nie mehr auf. Über mir beginnt die Welt, Kreise zu ziehen.

„Nein“, protestiere ich. Ein ängstlicher Schmerz, heiß wie Lava, fließt in meine Brust. Ich will ihn nicht verlieren. „Nein, du bleibst hier. Du kannst widersprechen und dich wehren. Das konntest du doch schon immer gut.“ Kurz sieht er auf, betrachtet mich und als sich unsere Blicke treffen, gibt sich unsere Verzweiflung die Hand.

„Ich kann nicht widersprechen. Es ist zu spät.“ Ich schlucke. Höre mein Blut rauschen.

„Okay, dann wirst du es überleben“, sage ich mutig. Als er nicht antwortet, setze ich mich und lege meine Hand über seine. Ich berühre spröde Arbeiterhaut. Sie fühlt sich kalt und ledrig an. Es ist nicht die Haut des Mannes, der mir sagt, dass wir trotz wenig Geld nach vorn schauen können. Es ist die Haut eines Mannes, der aufgegeben hat und sich in einen Panzer zurückzieht. Er schüttelt den Kopf und wir schweigen.

Dann bricht es aus mir heraus. „Das können sie nicht tun“, sage ich. „Sie können das nicht tun!“

„Wie du siehst, interessiert es sie nicht, was sie können und was nicht. Ich habe es immer gesagt, so läuft das Spiel. Wer unangenehm ist, der …“ Er verschluckt die letzten Worte, aber ich weiß, was er sagen will.

Ich beiße mir auf die Lippe. In meinem Kopf herrscht Chaos, das sich nicht sortieren lässt. Gedankenfetzen von einer Zukunft ohne ihn treten aus der Finsternis. Daran will ich nicht denken. Er kann es schaffen, er ist zäh und ein Kämpfer.

„Wann brauchen sie dich?“, frage ich.

„In vier Tagen.“

„Vier Tage?“ So schnell! Was für ein Irrsinn. Was für eine Verschwendung. Und dann wird mir klar, warum sie ihn so plötzlich loswerden wollen. Natürlich, es kann nur so sein.

„Hast du es fortgesetzt?“

Wieder treffen sich unsere Blicke, aber dieses Mal flüchtet sein Blick vor mir. Ertappt. Er entzieht seine Hände meiner Berührung und knetet sie unruhig. Das Weiß seiner Knöchel tritt hervor.

„Antworte mir, hast du es fortgesetzt?“

„Es tut mir leid“, flüstert er kaum hörbar.

„Und sie haben dich dabei erwischt“, stelle ich fest.

„Ja“, murmelte er. „Vorletzte Woche haben sie uns erwischt.“

„Jetzt bist du eine Bedrohung.“ Er nickt müde.

Das erklärt alles. Ich bin ernüchtert und enttäuscht. Er versprach mir, es sein zu lassen und hat sich nicht daran gehalten. Ich will wütend werden und ihn anschreien, aber so bin ich nicht. Mir ist immer klar gewesen, dass er sich abends mit seinen Freunden traf, um zu diskutieren. Über Politik, über Gesetze, über dies und das. In einer anderen Zeit wäre das harmlos gewesen.

Ja, ich habe ein biegsames Herz und eine dicke Haut. Aber ich wusste, dass der Mann vor mir eine scharfe Klinge in den Händen hielt, die er mitten in mein Herz stoßen würde, irgendwann. Noch ist es nicht so weit. Erst wenn er stirbt, dann wird mein Herz unheilbar Schaden nehmen.

Ich gehe zu ihm und streiche ihm über das Haar. Ich merke, dass er zittert.

„Du wirst es schaffen, hörst du? Es gibt einige, die zurückkommen.“ Seine Gedanken sind nicht bei der Sache.

„Hm“, murmelt er. Meine Hände berühren seine Wangen. Ich drehe sein Gesicht zu mir und sehe eine Träne in den stahlharten Augen. Ich will ihn küssen, ihn lieben, aber ich kann nicht. Stattdessen nehme ich ihn in den Arm.

„Kopf hoch“, sage ich und lege meinen Kopf auf seine Schulter.

***

Landschaft

Sie gewähren uns den Abschied. Wenigstens etwas. Die Uniform steht ihm nicht. Das dunkle Grün lässt in kränklich wirken. Wir klammern uns aneinander als könnten wir damit den Sturz in die Tiefe abwenden.

„Bald sehen wir uns wieder“, sage ich und ihm huscht ein zaghaftes Lächeln über die Lippen. Ein letztes Mal küsst er mich. Ich spüre die Wärme auf seinen Lippen, das Kribbeln in meinem Körper und eine heiße Sehnsucht.

„Ich werde immer an dich denken und es tut mir leid“, sagt er zum Abschied als die Ansage ertönt. Dann geht er, dreht sich nicht um und verschwindet hinter einer getönten Glaswand. Ab jetzt liegt sein Leben in den Händen von anderen.

Ich bleibe zurück und kämpfe mit den Tränen. Nicht weinen, denke ich, das ändert nichts. Lange stehe ich da und starre auf die Glaswand. Nun ist mein Herz doch zersprungen. In zwei Teile. Ein Teil ist hier bei mir und einer ist bei ihm.

Ich löse mich von dem Ort und gehe zur Plattform. Dort beobachte ich, wie ein Flugzeug nach dem anderen startete. Ich stelle mir vor, wie er dort drinnen sitzt, in Gedanken versunken. Er rast der Ungewissheit entgegen.

Kalte Wut treibt ihre Klauen in mich hinein. Ich will ihm die Schuld geben, aber so einfach ist es nicht. Schuld liegt im Auge des Betrachters und er wäre nie freiwillig gegangen.

Auf einmal begreife ich alles. Warum er gekämpft hat und nicht aufhören konnte. Es ist nicht fair und ich werde es nicht akzeptieren. Ich werde seinen Plan weiterführen und einen sinnlosen Krieg beenden, der zu viele Opfer fordert. Euphorie treibt mir eine Gänsehaut über die Arme. Ich werde ihn nicht vergessen, sondern wie er kämpfen und vielleicht sehen wir uns wieder. Vielleicht kann mein geteiltes Herz heilen.

Diese Kurzgeschichte ist Teil meines Blogprojekts. Mehr dazu könnt ihr in meinem Post vom 18. August 2015 lesen. Kurz zusammengefasst schreibe ich in kurzer Zeit und bestimmten Vorgaben Kurzgeschichten. Das vorgegebene Genre in dieser Woche war Romantik und das Zitat ist aus dem Lied Elastic Heart von Sia:

„Well, I’ve got thick skin and an elastic heart, but your blade it might be too sharp.“

Ich hoffe, es hat euch gefallen. Bis zum nächsten Mal.

+ Mika +