Romane leben von ihren Figuren. Sie sind das Herzstück der Geschichte. Da gibt es nichts zu diskutieren. Lange Zeit habe ich mir kaum Gedanken über die Figuren in meinen Geschichten gemacht. Sie waren einfach da und haben mir gehorcht. Inzwischen bin ich der Ansicht: Nicht die Geschichte formt die Figuren, sondern die Figuren, die Geschichte. Zuerst das Huhn, dann das Ei sozusagen. In diesem Beitrag stelle ich euch deshalb eine der zwei Hauptfiguren aus meinem aktuellen Projekt vor. Und ganz ehrlich, das ist gar nicht so leicht. Es ist ein Drahtseilakt zwischen Details, die ich nicht verraten darf und Details, die euch interessieren. Ich hoffe, eine gute Mischung gefunden zu haben.
Neel: Ein Mensch mit Widersprüchen
Zu einer vernünftigen Charakterbeschreibung gehört ein Steckbrief mit den wichtigsten Informationen: Größe, Aussehen, Statur und so weiter. Alles Dinge, die so viel über einen Menschen aussagen wie Schuppen über Fische. Es sind Oberflächlichkeiten, die im Grunde den Blick auf das Wesentliche verstellen. Deshalb drehe ich den Spieß heute mal um. Zuerst der Charakter und dann, was sonst so zu einem Menschen gehört.
Ein Familienmensch auf Abwegen
Neel ist ein Familienmensch. Das ist das Erste, was es über ihn zu sagen gibt und das absolut Wichtigste. Gemeint sind damit nicht etwa eine Ehefrau und ein Kind (er hat weder das eine noch das andere), sondern seine Verwandten, Eltern und Geschwister. Für sie würde er wortwörtlich durch die Hölle gehen. Erst die anderen, dann er selbst, so ist die Logik. Wieso ist das so, wo doch prognostiziert wird, dass wir in ein paar Jahren alle selbstsüchtige Einsiedler sind? Im Gegensatz zu Protagonisten mit schlechter Kindheit und extrem negativen Erfahrungen, kann Neel auf eine liebevolle Kindheit zurückblicken, die ihn maßgeblich prägte. Bis äußere Umstände seine Eltern dazu veranlassten, nach Red-Mon-Stadt auszuwandern, war der Zusammenhalt zwischen den Verwandten sehr groß und er galt als der Vorzeigesohn/enkel/cousin. Aus diesem Grund ist Neel ein Mensch, der zwischen guten und schlechten Taten leicht unterscheiden kann. Eine Tatsache, die ihm nicht immer zum Vorteil gereicht ist.
Ein Soldat im Dienst der Stadtverwaltung
Neel ist Soldat. Kein Soldat, der in Kriegen kämpft, sondern jemand, der im Auftrag der Stadtverwaltung unangenehme Störfaktoren eliminiert. In zahlreichen Einsätzen ist er gezwungen, Dinge zu tun, die er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann. Er ist hin- und her gerissen zwischen Schuld, Pflicht und seinen Idealen, weshalb er kaum schläft, Alpträume hat und sich jeden Tag aufs Neue einreden muss, dass es schon irgendwie gut gehen wird. Ein Pulverfass, das nur darauf wartet, zu explodieren. Wenn ihr euch nun fragt, wieso zum Teufel wird jemand wie er Soldat, dann seid ihr auf der richtigen Spur. Ein Teil dieser Antwort ist der rote Faden des Projektes.
Die Vergangenheit ist die Brücke der Zukunft
Da Neels Heimatstadt gut überwacht ist und es kaum Orte gibt, wo er unbeobachtet sein kann, hat er eine Strategie entwickelt, um aus dem Alltag zu flüchten. Dazu zählt in allererster Linie das Sammeln von Geschichten. Nein, er hat keinen Bücherstapel bei sich zu Hause. Es geht um reale Geschichten von Menschen aus dem Alltag. Regelmäßig besucht er eine Bar, wo er sich in lockerer Atmosphäre mit den Besuchern unterhält. Dabei hält er immer Ausschau nach der Story, die ihn am besten von seinem eigenen Schicksal ablenken kann. Es ist also nicht verwunderlich, dass er sich mit der von Angst paralysierten Welt von Red-Mon-Stadt nicht identifizieren kann. Er hätte sich in unserer friedlichen Zeit wesentlich wohler gefühlt und kennt sich daher mit allem aus, was vor seiner Zeit war. Ob Filme, Bücher, Politiker, die Vergangenheit ist interessanter als die Gegenwart.

Neels anstrengende Seite …
Zu Neels ‚bad habits‘ zählt seine indirekte Art auf Fragen zu antworten. Er kann sich schlecht festlegen und redet daher lieber um den heißen Brei herum, als konkret zu sagen, worum es geht. Fragt man ihn beispielsweise, ob er schon mal darüber nachgedacht hat, seinen Posten als Soldat aufzugeben wäre seine Antwort zweideutig: „Mein Job ist manchmal nicht einfach.“ Im Klartext: „Ja hab ich, aber es gibt keine Alternative.“ Es ist für seine Umwelt daher so gut wie unmöglich herauszufinden, was er wirklich denkt oder meint. Das manövriert ihn mehrfach in unangenehme Situationen und bringt ihm einen unwiederbringlich schlechten Ruf ein. Außerdem gibt er in Notsituationen gern den Ton an und vergisst die Menschen um sich herum. Was nicht heißt, dass er sie nicht irgendwie doch im Kopf hat, aber sie sind erstmal nebensächlich. Er agiert in solchen Situationen zielstrebig, konzentriert und ergebnisorientiert. Das Ziel steht im Vordergrund und wer ihm in die Quere kommt, hat ein Problem.
Ein fiktives Interview zum Kennenlernen
Wie heißt es so schön, den Charakter einer Person erkennt man an der Sprache. Ob flapsig, aufbrausend, heiter, schüchtern, das alles erkennen wir in den verwendeten Worten, dem Tonfall und vielem mehr. Deshalb habe ich für euch ein kurzes Interview vorbereitet, das Neel in Aktion zeigt. Wichtig ist anzumerken, dass er sich in einer unbefangen Situation befindet und relativ sicher ist, dass ihm nachträglich kein Schaden entstehen kann.
I: „Wenn du etwas ändern könntest, was wäre das?“
Neel: „Das ist eine heikle Frage. Es gibt einiges, was mir nicht passt und noch viel mehr, was ich rückblickend anders gemacht hätte. Aber es ist wie es ist. Ich bin keiner von denen, die glauben, mit lautem Gebrüll, Parolen und einer Waffe in der Hand könne man die Welt zu einem besseren Ort machen. Das ist Blödsinn.“
I: „Damit sprichst du die Rebellen an, die in deiner Heimatstadt ihr Unwesen treiben?“
Neel: „Nun ja, das Bild passt ganz gut zu ihnen. Sie kommen mir sehr unorganisiert vor. Selbst ein Ameisenstamm hat eine bessere Planung.“
I: „Also würdest du dort etwas ändern?“
Neel: „Bei den Rebellen? Die sind nicht mein Problem. Wir sollten alle dabei bleiben, unseren eigenen Kram zu klären. Damit haben wir bis ans Ende unserer Tage genug zu tun. Und ich sag dir im Vertrauen, DAS würde die Welt tatsächlich zu einem besseren Ort machen.“
I: „Das ist eine klare Ansage. Vertrittst du alle deine Ansichten so vehement?“
Neel: „Vehement … … … Schon mal einen Hund gefragt, ob er vor seinem Herrchen seine Ansichten vehement vertritt? Oder einen Fabrikarbeiter vor seinem Chef? Oder vielleicht einen Drogensüchtigen vor seinem Dealer?“
I: „Was hat das mit der Frage zu tun?“
Neel: „Ich bin Soldat. Ich habe gewisse Ansichten zu vertreten. Mehr sage ich dazu nicht.“
I: „Mit deinem Beruf bist du also nicht zufrieden?“
Neel: „Ich enthalte mich der Stimme.“
I: „In Ordnung, wechseln wir das Thema und kommen zur letzten Frage. Was würdest du den Menschen in Red-Mon-Stadt empfehlen?“
Neel: „Sie sollten daran glauben, dass Sicherheit ein Gefühl ist, das von innen kommt. Von einem selbst, verstehst du. Es ist nichts, was die Stadtverwaltung uns gibt oder für uns tut. Wer sich zu lange auf andere verlässt, landet irgendwann im Dreck. Und nicht nur das, wer zu lange einem bereits vorgegebenen Weg folgt, verlernt, eigene Entscheidungen zu treffen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.“
So, und zum Schluss habe ich euch einen Steckbrief versprochen. Ursprünglich wollte ich den Standard machen. Geburtsdatum, Alter, Augenfarbe blabla. Das war mir im Endeffekt dann doch zu langweilig und ich habe entschieden, euch stattdessen Neels ID aus Red-Mon-Stadt zu basteln. Hier das Ergebnis nach zwei Stunden Photoshop:

Bilderquellen:
Red-Mon-Stadt ID: Mika Krüger
Giampaolo Macorig von flickr.com
Jetzt sag mir bitte nicht, dass er am 03.03.50 Geburtstag hat!
Ein interessanter Steckbrief, allerdings muss ich ehrlich sein: Es fehlt mir noch etwas. Wenn er eine der Hauptpersonen der Geschichte ist, möchte ich wissen, ob er ein Guter oder ein Böser sein soll. Ist er ein Guter, wie ich vermute, dann fehlt mir etwas anders. Ich kann es gar nicht richtig benennen. Die Idee, dass er sich aus Fragen mit Gegenfragen rausredet, finde ich klasse. Gibt ihm Charakter. Aber es fehlt etwas, um die Figur in meinen Augen sympathisch werden zu lassen. Er redet sich im Interview so sehr raus, dass ich mich frage, warum ich eine Geschichte über ihn lesen sollte. Verstehst Du was ich meine?
Mein Held im nächsten Teil zum Beispiel, sitzt auch oft in einer Bar. Während Dein Neel sich dort nach anderen Geschichten umhört, versteckt sich mein Kane dort. Er sucht die Anonymität und findet dann das genaue Gegenteil 🙂 Was findet Dein Neel dort? Spielt die Bar überhaupt eine Rolle oder ist das nur ein kleines Detail, das uns Neel vorstellen soll?
Sehr angenehm finde ich übrigens auch die gute Familienhintergrundgeschichte. Ich habe ja ein Faible für gequälte Helden, aber manchmal tut es auch mal gut zu lesen, dass der Held eine tolle Familie hatte, die ihm Kraft und einen Grund zum Weitermachen gibt. Das gefällt mir!
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Ach, ich bin dir nicht böse! Das ist deine Meinung. Danke für den Kommentar. In einem so kurzen Abriss Neel ‚vollständig‘ darzustellen ist sehr schwer. Ich bin ja davon überzeugt, dass du ihn sehr mögen würdest, wenn du das Drumherum kennst. Das kann ich nur einfach nicht verraten. Im Roman selbst wird Neel erst nach einigen Kapiteln erwähnt, obwohl sich im Endeffekt alles um seine Person dreht. Das ist ein Trick, um Spannung zu erzeugen und die Figur richtig einzuführen. Wie eine lange spannende Vorstellungsrede sozusagen.
An sich bestätigt deine Ansicht meine Entscheidung, ihn nicht als die Hauptperson schlechthin zu verwenden, was ursprünglich angedacht war. Das ist ja Rina, die kein so großes Rätsel ist wie Neel und nur halb so viel zu verlieren hat wie er.
Ich muss aber gestehen, dass meine Figuren allesamt weder „böse“ noch „gut“ sind. Es ist dem Leser überlassen, wie er die Figuren einordnet.
Was findet Neel in der Bar? Er findet dort Ablenkung. Er würde selbst sagen: „Ich kann da abschalten, einfach mal nicht an all die Menschen denken, die XXX“ (spoiler Alarm!) Und ja, die Bar spielt eine Rolle, selbst die Uhr hat eine tragende Bedeutung und ist Teil der Geschichte.
Kane heißt also deine Hauptfigur. Da muss ich immer an Kain denken, der erste Mörder der Menschen.
Edit: Zu dem Geburtsdatum äußere ich mich nicht.
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Und wann hat er nun Geburtstag???
Zum Glück hat mein Kane mit dem Kain wenig gemeinsam 🙂 Eigentlich würde er wohl sehr gut zu Deinem Neel passen, wenngleich Kane immer zu allem Stellung bezieht und einen ziemlich großen „Ich muss die Welt und alle Leute retten“ Komplex hat
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Ja, du hast natürlich recht, der 03.03.2050. War völlig korrekt. Aber siehst du, so krieg ich Spannung rein. 😛
Verstehe, er hat also einen Beschützerkomplex. Nein, das hat Neel nicht, obwohl …
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Hm, da fällt mir doch gleich die Frage ein, ob Du Dich mit Sternzeichen beschäftigt hast: Er ist dann ja ein Fisch und zu Fischen passt das herausreden aus unangenehmen Fragen und keine direkte Stellung beziehen wollen, sehr gut.
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Um es indirekt zu sagen: Neel hat sich seinen Geburtstag nicht ausgesucht, aber wenn es zu Fischen passt, dann scheint er zur richtigen Zeit auf die Welt gekommen zu sein.
Nee, ganz ehrlich, ich bin nicht so der Mensch, der über Sternzeichen nachdenkt. Es war also Zufall, dass es so gut zusammenpasst. Denkst du über Sternzeichen nach?
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Nicht unbedingt. Ich weiß nur, wie die 03.03. Geborenen ticken. Da fiel mir sofort auf, dass es passt 🙂
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OMG, die Uhr! Ich liebe solche Details, denn sie sind es, die einer Figur Persönlchkeit verleihen. Das ist so wie die „World’s Okayest Boyfriend“ Tasse in meiner Kurzgeschichte… ich schreibre übrigens grade die Szene, die die Herkunft der Tasse erklärt 😉
Beim Interview kriegt man einen besonders guten Eindruck, wie Neel sich so in der Öffentlichkeit verhält. Ich sagen bewusst nicht ‚wie er ist‘, denn das Interview repräsentiert für mich sehr stark, was Neel nach aussen zeigt, nicht unbedingt, wie es in seinem Inneren aussieht. (Das letztere würde mich noch sehr interessieren, aber ich glaube, dass Neel sich da zu Beginn der Geschichte selbst nicht ganz sicher ist… bei bestimmten Aspekten zumindest). Das wäre ein Aspekt, den er mit Jade gemeinsam hat, obwohl sich Neel wahrscheinlich weniger verstellt, und vor allem weniger bewusst.
Die ID ist genial 🙂 Und ein schwarzer Balken? Seeeeehr geheimnisvoll ^^
Kann es nicht abwarten, mehr herauszufinden 🙂
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Genau! Das sind die Kleinigkeiten, an die man im Endeffekt nicht sofort denkt. Wie die Lederjacke von Darryl aus Walking Dead. Symbole, die einen Menschen ausmachen. Hat jeder ja irgendwo.
Wie es in Neels Innerem aussieht? Düster, um nicht zu sagen bald schon stockfinster, bis ein Lichtschimmer auftaucht und … Okay, nein, das ist jetzt wirklich zu viel des Guten. Du weißt ja, worum es geht. 🙂
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Wenn Neel tatsächlich so altruistisch ist wie du ihn hier beschreibst (erst die anderen, dann er selbst), dann scheint mir die „liebevolle Kindheit, die ihn maßgeblich prägte“ eine zu schwache Erklärung dafür zu sein. Da muss es noch andere Gründe für eine so starke Bindung geben. Vielleicht ein Schlüsselerlebnis oder eine alte Tradition …
Wenn ich die Fakten nehme, die mir das Interview gibt, erscheint mir Neel vor allem überheblich und besserwisserisch. Wir sollen ihm glauben, dass er weiß, wovon er spricht, aber er haut eine leere Phrase nach der anderen raus. Da ist kein Beweis irgendwelcher Fähigkeiten. Der Vergleich Rebellen/Ameisen ist schon den Fakten nach unhaltbar. Zum Planen braucht es ein Gehirn, Ameisen haben keins. Zumindest das sollte ihm klar sein, wenn er doch so viel über die Welt um ihn herum weiß. Oder?
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Danke für deinen Kommentar. Einen Beweis von Neels Fähigkeiten kann ich in so einem kleinen Teilstück nicht bringen. Ich könnte sagen, was er kann, aber das ist ja mehr erzählt als erlebt. Die ganze Sache ist komplexer als sie aussieht. Schade, dass er dir überheblich vorkommt. Er spricht aus Erfahrung, nicht um zu sagen: Ich weiß es besser als du. Im Grunde setzt das aber Voraus, dass sein Gegebüber die Hintergrundgeschichte kennt und daraufhin nickt, weil er sofort weiß, was gemeint ist. Vielleicht ist das Interview zu sehr aus dem Kontext gerissen, wer weiß.
An ihm scheiden sich allerdings selbst in der Geschichte die Geister.
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Ganz vergessen: Es gibt einen Schlüsselmoment, der verursacht, weshalb Neel diese „Haltung“ eingenomen hat.
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Also, dass er Widersprüche hat, die ihn treiben, das erkenne ich schon. Was mir fehlt, ist die Innere Reife. Gut, er kommt aus seiner gegenwärtigen Situation nicht raus, aber er sollte zumindest genau wissen, was er täte, wenn er könnte. Dann wäre er bereit, beim richtigen Auslöser sofort und zielgenau zu starten.
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Du meinst, weil er sagt, dass er keine eigenen Entscheidungen mehr treffen kann und sich daher keine Gedanken über das „könnte“ macht? Ich denke, die Erkenntnis, dass sein Weg, der menschlich gesehen völlig unsinnig ist, falsch war, in ihm eine große Veränderung auslöst. Aus schriftstellerischer Sicht würde ich sagen, er hat noch einen weiten Weg vor sich, ehe er seinen Sarkasmus/Zynismus abstellen kann und die Dinge so sieht, wie sie sind. Vielleicht meinst du das mit innerer Reife.
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Phantastische Werbung für dein Schreibprojekt, das sehr neugierig macht. Oder soll diese -an sich sehr wichtige Erkenntnis ‚ Figuren sind entscheidend für die Glaubwürdigkeit eines Romans ( wie auch von Filmen, oder Theaterstücken) für dich auf Resonanz deiner möglichen Leser ‚abgeklopft‘ werden? Wie ich sehe haben das einige Blogger, die selbst Autoren sind, kommentiert und sogar sich in die von dir skizzierte Romanfigur hinein zu versetzen versucht, auch Korrekturen vorgeschlagen. Das finde ich – verzeih mir meine Meinung – dann aber eher nicht hilfreich. Adressat deines Beitrags über Widersprüche deiner Romanfigur sollten aber die Leser deiner Werke sein, nicht andere Autoren/Innnen, denn diese sind unbelastet von Selbsterfahrungen und Zweifeln beim eigenen Schreiben.
Hier also die Meinung eines ‚Nicht-Autors‘ (im Sinne von ernsthaften Publikations Absichten) aber doch Schreib-Interessierten: Die von dir vorgestellte Figur Neel erscheint mir zu konstruiert, so einen Menschen gibt es meiner Meinung und weitgespannter Lebenserfahrung nach nicht. Es fehlt an Selbstzweifeln oder an Überheblichkeit, er (Neel) ist zu wenig abgedreht, auch nicht wahnsinnig, nur von einer Art Ordnungswahn besessen. Vom letzteren, das ist mehr oder weniger eine bei den Deutschen ausgeprägte Charaktereigenschaft die schnell, wenn man mal längere Zeit in einer anderen Kultur (aber nicht gerade in Japan – lächel) gelebt hat, sehr schnell lächerlich werden kann.
Deine Figur ist zu wenig menschlich, so kann sich der kritische Leser nicht identifizieren –
und auf der anderen Seite zu wenig irre. für die Freunde des Horror-Genres. Aber das sagst du selber an, dass deine Hauptfiguren weder gut noch böse sind. Menschen also wie du und ich und die unserer alltäglichen Umwelt. Begeistert mich das, was ich sowieso jeden Tag um mich herum erfahren kann?
Trotzdem ein riesiges Kompliment an dich und deine Schreibkunst. Du gibst dir sehr viel Mühe uns dein Wirken als Autorin verständlich zu machen. Ich wünsche dir von Herzen einen fulminanten Durchbruch im stark umkämpften Meer der Neuerscheinungen.
Liebe Grüße
Roland W
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Hallo Roland, danke für den sehr hilfreichen Kommentar. Ja, der Beitrag richtet sich in allererster Linie an Leser, die in Zukunft vielleicht mein Büchlein lesen könnten. Und ja, es geht auch darum, zu schauen, ob überhaupt Interesse besteht. Das Manuskript ist trotzdem schon fertig und wartet nur darauf, überarbeitet zu werden.
In meinen Augen ist jede Kritik wichtig. Solange ich sie richtig einzuordnen weiß, bin ich meistens nur froh. Besser als keine Reaktion, würde ich sagen. Meinungen von Autoren helfen mir, den Blickwinkel zu ändern. Manchmal ist man selbst so in seinen Denkmustern gefangen, dass man das Offensichtliche nicht sieht. Um ein Beispiel aus Japan zu nehmen: Japaner haben nicht etwa deshalb keine Zentralheizung, weil sie es sich nicht leisten können, sondern weil die Architektur anders funktioniert. (ganz grob zusammengefasst, weil kein Platz).
Mich würde deshalb interessieren, was konkret du ‚konstruiert‘ findest. Die Art wie er spricht, wie er reagiert oder seine Lebensgeschichte?
Was ich nicht erwähnt habe, weil ich annahm es käme vielleicht heraus, ist die Tatsache, dass Neel ein Kanditat für PTBS ist. Daher die Schlafstörungen, seine Selbstzweifel und so weiter. Ich habe mir dazu ein Interview mit einem Soldaten angeschaut, um mich besser in die Gedankenwelt eines solchen Menschen hineinversetzen zu können. Ob ich das im Buch dann gut umgesetzt habe und es nicht konstruiert wird, entscheiden dann Leser wie du.
Bei meinem letzten Buch Sieben Raben hatte ich zum Beispiel das Phänomen, dass eine Gruppe von Leuten die Hauptperson Frana unrealistisch fand und die andere Gruppe den Haupthelden Krystof. Entweder oder. So richtig dazwischen war niemand. Das hat mich einiges gelehrt. Es wird immer jemanden geben, dem das, was man macht, nicht gefällt.
Zum Thema, begeistert mich das, was ich sowieso jeden Tag um mich herum erfahren kann. Das hängt von den Menschen ab. Ich für meinen Teil finde den Alltag sehr spannend. Was einem manchmal so für Menschen begegnen, da fragt man sich wirklich, ob die Person nicht einem unsinnigen Roman entsprungen sein könnte. 🙂
Und danke, für die lieben Worte am Schluss. Ich gebe mir Mühe.
Grüße
Mika
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Hallo Mika, ich freue mich über deine Reaktion auf meinen Kommentar, das gibt mir (und sicher auch vielen deiner Blog-Leser) das wunderbare Gefühl wie ernst dir der Gedankenaustausch mit deinen möglicherweise künftigen Lesern ist. So sollte Literatur sein – und so ist es interessant, sich mit einbezogen zu fühlen in die Gehirn-Akrobatik einer Autorin.
Dass Interesse an deinen Werken besteht, das finde ich, ist wohl sicher. Denn du schreibst klar, luftig und selbstkritisch ironisch. Es kommt nur noch auf das Sujet an, das du wählst und ob dafür nur eine kleine Zielgruppe in Frage kommt – wie z. Bsp. das Horror-Genre. Da ich aber annehme, dass du mal eines Tages vom Schreiben (hoffentlich gut!) leben kannst, so braucht es die ‚Masse‘ der Leser, was ich aber beileibe nicht abwertend verstanden wissen will. Diese Gemengelage an Buchkäufern wollen aber 1. unterhalten werden, 2. etwas wiedererkennen was ihnen schon mal so in ihrem menschlichen Umgang aufgefallen ist, sie aber nicht die richtigen Worten dafür fanden (genau deine Aussage: Manchmal fragt man sich wirklich, ob die Person nicht einem unsinnigen Roman entsprungen sein könnte…) Das ist es. Es wird dich langweilen, aber ich zitiere hier ganz altvatterisch J.W.Goethe ….’Greif nur hinein ins volle Menschenleben, da wo du’s packst, da ist es interessant‘ Das ganz normale Leben, dieser versteckte Wahnsinn, die Ziellosigkeit, Überheblichkeit, Wahnhaftigkeit, Unentrinnbarkeit, unsäglicher Hedonismus, Geilheit…. das färbt zeitgemäß auf die Menschen ab und formt sie auch, meist ohne dass sie sich dessen bewußt sind. Wir sind umgeben von tausend Geschichten, wenn man versteht diese Geschichten zu entstauben und verständlich werden zu lassen. Das trau ich dir durchaus zu!
Was deine Frage bezüglich deiner Figur Neel betrifft, so überzeugt mich seine Lebensgeschichte nicht. Das meinte ich, als ich schrieb, dass ich, der ich gerne Menschen beobachte, mir noch nicht untergekommen ist. Natürlich mag es so ein seltenes Exemplar geben…aber ringt das denn dem künftigen Leser genug Interesse ab? Einer aus einem wohlbehüteten Elternhaus nimmt im Erwachsenenleben eher eine andere Entwicklung, wird nicht ‚Soldat‘ – wobei mir auch das nicht gefällt, eher ‚Polizist‘ das fände ich natürlicher – aber die Geschichte ist ja eher SF – (künstliche Stadt Red Mon) dann meinetwegen. Wenn du die unsägliche Pegida Bewegung damit verquicken willst, sollte ich dein hinzugefügtes kryptisches Kürzel (PTBS?) so verstehen, das wäre ein anderer Ansatz, aber kein schlechter.
Der Alltag ist spannend, da bin ich deiner Meinung. Nur ab und an muss man diese Alltagswelt mal gegen eine andere austauschen, denn bald sind die ‚menschlichen‘ Resourcen erschöpft, die meisten Menschen entpuppen sich als Schablonen oder wie geklont, sie wiederholen ihre Ansichten und Welterkenntnisse meistens auf dem gleichen level, leider sehr oft auf dem Stammtisch-Niveau. Das interessiert dann niemanden mehr, außer als ‚Randfiguren‘ im Roman des Lebens.
Liebe Grüße
Roland
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Jetzt musste ich bei deinem Kommentar glatt lachen. Also nicht, weil dein Text etwas Lächerliches hatte, sondern wegen des Vergleichs mit Pegida. Der Gedanke ist mir nicht einen Moment gekommen, aber es wäre einen Versuch wert. Nur die Vorstellung Neel könnte zu einem von … Nein! Diese Bewegung lasse ich lieber unkommentiert, sonst wird es bösartig. Was diese Wutbürger angeht bin ich nämlich plötzlich gar nicht mehr tolerant und freundlich. Aber gut, ich schweife ab.
Ah, da habe ich einfach so mit einem Kürzel um mich geworfen und bin ins Fettnäpfchen getreten. PTBS ist das Kürzel für Posttraumatische Belastungsstörung. Das hast du wahrscheinlich schon viele Male gehört oder gelesen. Bei Soldaten tritt dieses Trauma vor allem dann auf, wenn sich das moralische Weltbild und die eigenen Taten/Erlebnisse nicht miteinander in Einklang bringen lassen. Neels Weg zum Soldaten ist, wenn man es so will, erzwungen, weshalb er durchgängig in Konflikt mit seinen Vorstellungen und Taten steht. Ich hatte zwar geschrieben, er entscheidet sich, aber im Grunde hatte er nie wirklich eine Wahl. So in etwa wie bei Wahlen, wo nur eine Partei auf dem Zettel steht und alles im Grunde eine große Inszenierung ist.
Ich finde es nicht altvatterisch, Goethe zu zitieren. Er ist ein großartiger Mann gewesen. Seine Worte werden noch Jahrhunderte lang in uns nachhallen. Und ich könnte die Worte, die du in dem Zusammenhang geschrieben hast, sofort unterschreiben. Da steckt so viel Wahrheit drin.
Menschen als ‚Schablonen‘. Ja, die gibt es wohl. Leider etwas zu oft. Sie sind mir allerdings nicht auf Stammtischen begenet, sonder als unterbezahlte Arbeitskräfte, die ihre Unzufriedenheit auf andere projizieren. Eine schaurige Vorstellung…
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Sehr schöne Diskussion, die m.E. für Autoren wie Leser gleichermaßen interessant ist.
Also noch ein paar Gedanken von mir:
Wenn Neel zum Dienst als Soldat gezwungen wurde, macht vieles in dem Interview mehr Sinn. Bei solchen Kämpfern würde ich erst mal annehmen, dass sie bei der ersten Gelegenheit desertieren oder meutern. Wenn das nicht ohne weiteres geht, heißt es warten auf eine Gelegenheit.
Ich habe das Interview so interpretiert, dass Neel bereits an diesem Punkt angekommen ist.
Oder ist dein Thema sein Weg, der zu diesem Entschluss führt? Das ist jetzt der Punkt wo ich zu wenig über deine Geschichte weiß.
Posttraumatische Belastungsstörungen können auf vielfältige Weise entstehen. Eine Bekannte von mir ist Psychologin mit Schwerpunkt Trauma-Behandlung. Ich dachte dabei auch zuerst an Soldaten und war sehr überrascht von ihr zu hören, dass die so gut war gar nicht als Patienten bei ihr auftauchen. Sie sagt, dass kollektiv erlebte Traumata für die Betroffenen leichter zu verarbeiten sind als etwa die Verwicklung in einen Verkehrs- oder Arbeitsunfall mit Todesfolgen.
„Bei Soldaten tritt dieses Trauma vor allem dann auf, wenn sich das moralische Weltbild und die eigenen Taten/Erlebnisse nicht miteinander in Einklang bringen lassen.“ – Das scheint mir nach eigenen Recherchen zu diesem Thema ein Klischee, das eher selten zutrifft. Sehr häufig finde ich dagegen schwere Zweifel und Selbstvorwürfe, den eigenen (!) Kameraden nicht genügend geholfen zu haben. Das zieht sich von den Napoleonischen Kriegen bis hin zum letzten Golfkrieg der Amerikaner.
Ebenfalls zu bedenken: Solche Stress-Symptome treten in der Regel erst nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst auf, nicht während der Dienstzeit. Lange Lazarettaufenthalte wären ebenfalls denkbar.
Und natürlich liefert das Leben selbst die besten Vorlagen für Figuren. Selbstredend nicht 1:1 zu verwenden. Beobachten, verfremden und etwas Neues aus unterschiedlichen Einzelteilen formen. (Jaja, ich weiß, das hat J. Beuys mal so ähnlich gesagt). Denn bekommt man die Charaktere, von denen Roland so treffend sagt: Der Leser will sich oder andere darin wiedererkennen. Das war mir bisher so auch noch nicht klar. Danke für das Lernfutter!
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Ich habe mich zum Großteil an einem Interview von einem Soldaten orientiert, der selbst betroffen ist. Er meinte, dass viele Soldaten sich ihres Traumas nicht bewusst sind. Er hat es in etwa so formuliert, wie ich es wiedergegeben habe. Er war selbst nie im Gefecht, hatte allerdings ein Problem damit, dass gewisse Dinge verschleiert worden sind. Das Trauma trat bei ihm logischerweise auch erst in den Ruhephasen auf, dann, wenn der Stress abgeflaut war und der Alltag kam. Bei ihm hat es mehrere Jahre gedauert, ehe er wusste, was genau mit ihn los ist. Zwischendurch war er immer mal wieder aktiv im Dienst. Ich habe mich mit PTBS auch im Rahmen vom Pazifischen Krieg beschäftigt. Es ging um Gruppenselbstmorde auf der Insel Tokashiki. Da wurden natürlich ganz andere Auslöser für PTBS erwähnt. Das Thema ist in jedem Fall sehr vielschichtig, so wie jede Erkrankung. Wenn man bedenkt, dass auch Erkältungen bei jedem anders ausfallen, wird klar, dass der Geist da noch viel mehr Chaos bringen kann. Mein Mitbewohner ist Mediziner und er hat eine ganz eigene Sicht auf PTBS, nämlich, dass sie viel zu schnell diagnostiziert wird (zum Beispiel bei Verkehrsunfällen).
Noch ganz kurz zu Neel. Er ist zu Beginn des Romans gerade dabei, sich etwas zu lösen. Das Interview bezieht sich auf seinen Zustand ganz am Anfang. Es ist nicht der gereifte Neel, der lernt, mit den Konsequenzen zu leben.
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