Leseprobe – Sieben Raben

Die Schreie der Vogelschar begleiteten Frana wohin sie auch ging. Selbst an diesem kalten Oktoberabend schwebten sie über ihr wie die dunkle Vorahnung eines Unglücks. Es war diesig und grauer Nebel zog durch jeden Winkel der Straße. Deshalb sah sie die Esche vor dem Haus ihrer Eltern erst spät. Wie ein Riese ragte sie über das doppelstöckige Gebäude hinaus und erstreckte sich weit zum Himmel hin. Der Baum glich einem Skelett, dessen Knochen sich träge im Wind bewegten.
Die stromlinienförmige Gestalt eines Raben spannte die Flügel und landete mit ausgestreckten Beinen auf einem der obersten Äste. Frana dachte an die spitzen Krallen, die sich nun in den trockenen Ast gruben und schauderte. Es waren ihre gefährlichen Beobachter, ihre verfluchten Begleiter, ihre geräuschlosen Wächter. Man konnte sie nennen, wie man wollte, aber es würden sieben Raben bleiben, die Tag und Nacht an ihrer Seite verweilten.
»Ihr macht mir keine Angst mehr«, sagte sie laut, bekam jedoch keine Antwort. »Schon lange nicht mehr«, murmelte sie und umklammerte den Riemen ihrer Umhängetasche.
»Rah«, machte der Größte unter ihnen. In der Vogelschar war er derjenige, der den Ton angab. Flog er los, setzten auch die anderen zum Flug an. Landete er, landeten sie ebenfalls.
Frana beobachtete, wie auch der letzte Vogel auf einem knochigen Ast Platz nahm, dann erst wandte sie sich ab und lief zum Eingang ihres Familienhauses, gefolgt vom Blick der Raben. Sie war müde von der Arbeit, ihre Kleidung war feucht und sie fror.

***

Im Haus angekommen, warf Frana Tasche und Jacke in eine Ecke des Flurs, machte sich einen Kakao und ließ sich im Wohnzimmer auf die Couch ihrer Eltern fallen.
Die Füße auf dem Beistelltisch, genoss sie den Moment der Ruhe. Die Arbeit in der Druckerei war eine einfache Arbeit für ein einfaches Mädchen, aber Perfektionismus und Ehrgeiz forderten ihren Tribut. Sie war ständig müde. Noch dazu hatte ihre Chefin ständig etwas an ihr auszusetzen. Immer hieß es: »Frana, du bist zu unkonzentriert.« Und damit hatte die Frau sogar Recht. Seit jeher war sie von einer beständigen Unruhe beherrscht.
Frana redete sich ein, dass es an Lichtenthal lag. Das verschlafene Nest befand sich in unmittelbarer Nähe des Elbestroms, war eine halbe Stunde Fahrtzeit von Dresden entfernt und so beschaulich, dass man vor Langeweile verging. Die aufregendsten Ereignisse waren Diskussionen über den Umbau des Gemeindehauses oder Debatten über die Sauberkeit der Straßen.
Vielleicht hatte Frana als Kind deshalb nur Unfug gemacht und als Teenager ihre Eltern in die Verzweiflung getrieben. Erst mit ihrer Ausbildung legte sich ihr Drang, allem widersprechen zu wollen.
Seitdem kam sich Frana vor, wie an eine Leine gelegt. Es war eine selbstgemachte Gefangenschaft. Die Ausbildung, das Leben bei ihren Eltern. Vor drei Jahren hatte sie sich das alles ganz anders vorgestellt, aber nun schien es zum Losreißen zu spät zu sein.
Sie hörte das Rufen der Raben von draußen und dachte an die Freiheit dieser Tiere. Manchmal wünschte sie sich, einer von ihnen zu sein. Wie hieß es so schön: Dann konnte sie fliegen, wohin sie der Wind trug.
Doch so einfach war es nicht, denn auch die Raben waren Gefangene. Sie waren von einem unsichtbaren Käfig umgeben. Wohin Frana ging, dahin flogen auch die Raben, als wäre da ein unzertrennbares Band, das die Vögel in schwarzem Federkleid an sie kettete. Sie und die sieben Raben gehörten zusammen, das würde sich niemals ändern.
Seufzend schaltete Frana den Fernseher ein und zappte zwischen den Kanälen hin und her. Bei RTL blieb sie hängen. Ein deutsches Ermittlerteam löste einen brisanten Fall in zwanzig Minuten. Schon nach kurzer Zeit wurden ihr die Augen schwer. Sie ertappte sich beim Sekundenschlaf, hielt noch etwas durch, dann nickte sie ein.
Es war bereits stockfinster draußen, als ein regelmäßiges Klopfen im Haus ertönte. Erst war es kaum auszumachen, dann schwoll es immer mehr an, bis Frana letztendlich aufwachte.
Zuerst dachte sie, ihr Handy habe sie geweckt, doch diesen Gedanken verwarf sie schnell. Weder ihr Handy noch irgendein anderes elektrisches Gerät konnte dieses Klopfen imitieren. Es war dumpf, zugleich aber rhythmisch und gläsern.
Im Fernseher lief Werbung, helle Bilder, die das Wohnzimmer schemenhaft erkennbar machten. Jemand pries Zahnpasta an und lächelte Frana strahlend ins Gesicht. Sie griff nach der Fernbedienung und stellte auf lautlos. Jetzt hörte sie das Klopfen deutlicher. Tong-Tong, Tong-Tong.

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