Nach Jahren des Reisens und unsteten Wanderns kehrte ich zurück an jenen Ort, an dem alles begonnen hatte – die Hotelruine Nakaku auf Okinawa. Ihr Betonskelett thronte zerstörerisch auf einem Berg im Süden Japans und hob sich vom frischen Grün der Bäume ab wie Mondlicht von der Nacht. Eine Bauruine, begonnen als Prestigeprojekt in den achtziger Jahren, gestorben auf halbem Weg zur Fertigstellung. Die blumigen Worte, mit denen der Investor die weitläufigen Flaniermeilen, Pachinko-Hallen und Restaurants umschrieben hatte, waren vertrocknet.
Dieses Hotel hatte mein Leben für immer verändert. So sehr, dass ich mir nicht einmal vorstellen konnte, wie es ohne meinen Besuch verlaufen wäre. Deshalb glaubte ich auch nicht daran, dass beim Bau einfach nur das Geld ausgegangen war. Ich wusste, an diesem Ort war etwas geschehen, dass sie alle vertrieben hatte. Man redete von einem Jungen, der im öffentlichen Pool ertrunken war. Aber ich war mir sicher, das Geheimnis lag viel weiter zurück. Es betraf das Land, auf dem das Hotel errichtet worden war.
»Geh da nicht rein!«, knurrte es hinter mir mit tierischem Unterton. Sie war also da, meine Äffin.
Ich ignorierte ihre Worte und atmete die salzige Meeresluft ein. Das hier war meine letzte Chance, alles auf die Reihe zu kriegen und das langweilige Leben zu bekommen, das ich immer hatte führen wollen. Zusammen mit Miri, die zwar stets behauptete, sie käme mit meiner Art und meinem seltsamen Anhängsel klar, aber das glaubte ich ihr nicht. Niemand kam auf die Dauer damit klar, sie war nur deutlich geduldiger und schwer verliebt.
»Noriko, bitte, das muss doch nicht sein!«
»Jetzt hör schon auf mit der Bettelei. Das wird nichts bringen. Ich habe mich längst entschieden«, antwortete ich und erntete ein böses Fauchen.
Nun sah ich doch zu meiner Äffin. Betrachtete ihre leuchtend roten Augen, die mich nervös fixierten und das zerzauste Fell, das an ein paar Stellen vollständig fehlte. Sie gehörte zur Gattung der japanischen Makaken. Ein rotes Gesicht umrahmt von grauem Fell. Allerdings war sie deutlich zu klein geraten für ihre Art. Als ob sie am Anfang ihrer Entwicklung stecken geblieben war. Wenn ich sie jetzt so betrachtete, wusste ich nicht mehr, warum ich jemals Angst vor ihr gehabt hatte. Früher hatte ich geschrien, sobald sie auftauchte, sie mit allem möglichen beworfen, geweint, geflucht, gefleht, damit sie endlich verschwand. Aber die Äffin war geblieben. Sie kam und ging, wann sie wollte, ich hatte keine Kontrolle über sie. Dass niemand außer mir sie sehen konnte, machte es wahrlich nicht einfacher.
Ich zog meinen Rucksack von den Schultern und prüfte noch einmal, ob ich alles dabeihatte. Kamera, Pfefferspray, Unmengen an Salz, eine Bannschriftrolle, Proviant und das Notizheft mit Recherchen und dem Grundriss des Hotels. Alles an seinem Platz.
»Ich gehe jetzt los«, sagte ich zu mir selbst und flüsterte: »Ich gehe wirklich da rein.«
Ich näherte mich dem länglichen Eingangsgebäude des Hotels. Irgendwo zirpte eine Zikade. Ihr lautes Beinchenreiben erzeugte eine Tonfolge, die wie Tske-Tske-Boosch klang. Palmenblätter bewegten sich im Wind. Ich erreichte die Schwelle des Eingangs. Über mir war der Torbogen. Unter mir rissiger Beton. Ich zögerte, dann trat ich ein und überquerte die feine Linie zwischen Diesseits und Jenseits. So fühlte es sich zumindest an. Hinter mir kreischte die Äffin. Ich hielt die Luft an, wartete auf etwas Fürchterliches. Doch dann geschah nichts. Ich sah mich um, prüfte, ob die Luft flimmerte, ob die Geräusche anders klangen, wie unter Wasser oder etwas in der Art, aber da war nichts.
***
Ich lief an den unfertigen Geschäften, die das Hotel wie ein Hemdkragen umgaben, entlang. In leichter Steigung ging es den Berg hinauf. Unter meinen Füßen knackten Holz, Steine und Glas. Die Luft kam mir immer dünner vor, mein Atmen wurde flacher, mein Herzschlag unruhiger. Neben mir hörte ich ein hastiges Trippeln. Sie war seltsam still geworden, meine Äffin.
Bevor ich das Hotelzentrum erreichte, bog ich rechts ab und betrat ein ehemaliges Kassenhäuschen. Ich ging hindurch und erreichte mein Ziel. Im östlichen Flügel des Hotelkomplexes lag der öffentliche Pool. Der einzige Teil des Hotels, der jemals geöffnet worden war. Er lag inmitten eines Waldes aus hohen Farnen, Palmen und Dickblattgewächsen. Es hatte Zeiten gegeben, da war er von Menschen völlig überfüllt gewesen. Hier war der Junge ertrunken und hier hatte ich die Äffin zum ersten Mal getroffen.
Damals war sie auf mich losgegangen, hatte mir die Haare ausgerissen und in den Hals gebissen. Mein Cousin Kyohei und meine beste Freundin Ruka waren dabei gewesen. Sie erzählten mir später, dass ich geschrien und mit der Luft gekämpft hatte, während um sie herum ein fürchterlicher Lärm ertönt war. Wie von explodierenden Bomben. Sie hatten ein weinendes Baby gehört und eine Mutter, die es tröstete. Von all dem erlebte ich nichts. Zu mir war nur die Äffin gekommen und ich ahnte, wieso. Ich hatte jedes Detail bis zur Erschöpfung studiert. 1992 als wir zu dritt die Ruine das erste Mal betreten haben, war das Jahr des Affen. So wie 1944 und so wie heute – 2016.