Gib Acht, wenn in finstrer Nacht
der strahlend schöne Schein gebracht
und des Eisvogels Ruf erwacht.
Enissa liebte die Stadt. Den Trubel, die Lichter, das energische Pulsieren des Lebens, das niemals zum Stillstand kam. In der Stadt brauchte sie sich nicht allein fühlen und schwebte mit den Massen in einer seltsamen Gleichgültigkeit, die ihr Frieden schenkte. Das Dorfleben hingegen war etwas völlig anderes. Ruhig und familiär. Alle kannten einander und grüßten sich ekelhaft vertraut. Da galt man schnell als unerwünscht, wenn man nicht richtig zum Gesamtbild passte. Trotzdem stand sie jetzt hier am Wasserfall eines 5000-Seelen-Ortes namens Flußwalde. Am 30. August 1997, dem zweihundertsten Geburtstag von Mary Shelley. Mit nichts weiter ausgerüstet als einer Taschenlampe und einer Kamera, weil das zur Wette gehörte. „Nur wir, die Nacht und ein gruseliges Setting“, erinnerte sie sich an Marlenes aufgeregte Worte: „Kommt schon, das wird lustig. Wir erforschen das Übernatürliche.“
Das Übernatürliche, klar. Verdammte Wette.
Wieso hatte sie auch ausgerechnet den Geburtstag von Mary Shelley in Flußwalde gezogen? Der Tagebau, den Marlene besucht hatte – okay. Der Friedhof, auf dem Rita gewesen war – auch okay. Aber ausgerechnet hier? Sie hatte sich die Geschichten durchgelesen. Da war die Rede von einem Wesen im Wasser gewesen, von Köpfen, die unter der Oberfläche schwammen, und einem seltsamen Vogelzwitschern.
Nur daran zu denken, machte sie nervös.
Egal, jetzt wartete sie eben hier und beobachtete, wie Wasser auf Ufersteine plätscherte, um zu Schaum zu werden. Mensch, sie konnte von hier aus sogar die Straßenlaternen sehen. Was machte sie sich ins Hemd? Friedhof war definitiv schlimmer.
Enissa atmete tief durch und warf einen Blick auf die Digitalanzeige ihrer Armbanduhr: 00:28:00. Gleich war es so weit. Nur noch zwei Minuten, dann schnell den Schlüsselanhänger einsammeln, zurück zum Treffpunkt, Schweißperlen abtropfen, hex-hex, erledigt. So grauenvoll war es gar nicht.
Ihre Hände hörten trotzdem nicht auf zu zittern.
Immer wieder schaltete sie die Beleuchtung ihrer Armbanduhr ein und starrte auf die Sekunden. Sie wechselten erst nach gefühlten Stunden die Ziffern. Zeit ist eben relativ, liebe Enissa, flüsterte ihr ein seltsam femininer Einstein ins Ohr.
Endlich sprang die Anzeige auf 00:29:00.
Nur noch eine Minute. Sechzig Sekunden. Eine verschwindend kurze Zeitspanne, hochgerechnet auf ihre Lebenszeit.
15, 16, 17, 18…
Komm schon, das kann doch jetzt nicht wirklich so ewig dauern.
41, 42, 43, 44 …
Sie leckte sich über die Lippen, sah zur Straße. Kein Mensch lief hier herum. Absolut niemand. Nur sie stand sich die Beine in den Bauch wie eine festgefrorene Eisfigur. Allerdings war sie nicht ganz so kalt und … tot.
58, 59, …
„Endlich. So ein Scheiß“, flüsterte sie.
Schnell ging sie zum Ufer und leuchtete zwischen die Steine. Das Metall von Ritas Schlüsselanhänger funkelte im Licht. Sie nahm ihn an sich und steckte ihn in ihre Hosentasche. Fehlte nur noch ein Foto.
Sie hob die Kamera an, strahlte mit der Taschenlampe auf den Wasserfall, positionierte den Bildausschnitt und drückte ab. Das Blitzlicht blendete sie, sodass sie blinzeln musste. Dann prüfte sie das Ergebnis. Ein überbelichtetes Foto mit Wasser, Steinen und Ufer. Total verrauscht und kaum zu erkennen, aber egal. Der Datumsstempel mit Uhrzeit sollte als Beweis reichen.
Als sie die Kamera ausschaltete, hörte sie das Klingeln eines Glöckchens, gefolgt von einem leisen Ti-it.
Sie lauschte auf die Umgebung. Tatsächlich, da war es wieder. Ein hohes Geräusch, das sich in zwei Silben erschöpfte. Ti-it.
Es kam nicht von den Bäumen, sondern eher von unten. Sie leuchtete auf das Gras am Ufer. Nichts zu sehen. Der Lichtkegel glitt über die Steine, weiter bis zum Wasser und den Wasserfall hinauf. Bei der Hälfte angekommen war, machte es wieder Ti-it.
Im gleichen Augenblick brach eine stromlinienförmige Gestalt aus dem Wasser hervor. Tropfen stoben in die Luft und eine Idee von Türkis und Orange mischte sich in das Dunkel der Nacht.
Enissa wich zurück. Was auch immer da hervorgeschnellt war, bewegte sich so hastig, dass sie es mit dem Blick nicht fixieren konnte. Einem Pfeil gleich sauste es an ihr vorbei, und ein scharfer Windhauch streifte ihre Wange.
Nach etlichem Kreisen um Enissas Kopf und Körper setzte es sich letztlich auf einem Stein oberhalb des Wasserfalls nieder und schaute sie an. Es war umgeben von einem strahlend blauen Schimmer, war so groß wie die Hälfte ihres Unterarms, hatte einen türkis-schwarz getupften Kopf und einen länglichen, spitzen Schnabel. Kurzer Schwanz, orangefarbener Bauch. Hübsch, elegant und einzigartig. Ein Eisvogel.
„Was machst du denn hier?“, fragte Enissa das Tier. Zur Antwort schüttelte sich der Vogel, spannte seine Flügel auf und erhob sich erneut zum Flug.