Leseprobe – Das schwarze Kaninchen

Copyright Cover – Qindie

»Oh nein, oh nein, das darf nicht sein,
muss doch leben und lauthals schreien.
Oh nein, oh nein, das darf nicht sein,
darf nicht bluten und noch weniger weinen.
Oh nein, oh nein, das tut es doch,
es töten die Kaninchen aus dem finstren Loch.«

Die Menschen glaubten, Kaninchen waren unschuldige und friedfertige Geschöpfe. Zu lieb, um einem anderen Wesen zu schaden. Sie kratzten im Boden, mümmelten Grünes und versteckten sich bei Gefahr schleunigst in hohem Gras, dabei wackelten sie unruhig mit der Nase, die Ohren wachsam aufgestellt. Fluchttiere, so nannte man sie, immer auf der Hut und von Angst verfolgt. Doch die bleichen Fuchsgesichter täuschten sich. Sie lagen völlig … falsch!
Sollten sie doch ruhig an dunklen Tagen vor flachen Scheiben sitzen, auf denen sich Bilder von jungen Kaninchen drehten. Kaninchen, die sich zur Seite rollten, ungeschickt im Schlaf das Köpfchen senkten, Beeren fraßen – eben drollige Dinge taten. Sollten sie doch beschämend ausgiebig darüber lachen und Kaninchen mit derlei Zeugs verspotten. Diese dummen Riesen hielten Kaninchen in Käfigen, als seien sie ihr Eigentum, hoben sie hoch, strichen über das flauschig weiche Fell und gaben ihnen Kosenamen wie »Muckel« oder »Flecki«. Abscheulich! Nichts war daran niedlich oder drollig, einzig der Mensch, der eins nicht verstand: Er war das Opfer. So würde es immer sein. Denn echte Größe zeigte sich nicht im Körper, sie zeigte sich im Geist.
Und Kaninchen, besonders die weißen, das wusste Shwaas sehr genau, waren beherrscht von einem Durst nach etwas Verbotenem, etwas Weichem, etwas, das unaussprechlich war. Sie alle verbargen dieses Verlangen mit Geschick, doch wenn es sie überkam, konnte ihm keiner widerstehen. Sobald die Sonne hinter dem Horizont abtauchte und sich die Silhouette des Sichelmonds unbemerkt in die totale Finsternis stahl, dann, ja dann, war es zu spät. Das »Oh« rauschte durch ihre Ohren, in die Pfoten, in jede Spitze ihres Fells, und die einzige Möglichkeit, es zum Schweigen zu bringen, war ein Mensch, atmend und lebendig.
Deshalb war er hier, duckte sich zwischen die Halme der Wildwiese und horchte auf das Grölen in der Ferne. Es waren unverständliche, aggressive Laute, die er am liebsten gemieden hätte, aber heute blieb ihm nichts anderes übrig, als auszuharren.
Er knirschte mit den Backenzähnen und legte die Ohren an. Hach, wie er die Wärme der Anderen vermisste. Ein Pech, dass ausgerechnet er das schwarze Kaninchen war. Ein Pech, dass ausgerechnet er nicht nagen durfte, sondern führen musste.
Ein kalter Wassertropfen fiel auf Shwaasʼ Fell und er schrak hoch. Nicht ängstlich werden, Shwaas, es sind nur die einfältigen Menschen. Du bist schlauer, wendiger und schneller. Sie haben gar keine Chance. Nein, gewiss nicht.


***


Noelle konnte ihrem Schicksal nicht entkommen. Und mit Schicksal meinte sie nicht dieses philosophisch hochstehende Wort, mit dem man eine unbekannte Macht bezeichnete, die den Lebensweg vorherbestimmte. Nein, das meinte sie nicht. In Noelles Fall war glasklar, was sie da fest im Griff hatte: Gefühle. Allein deshalb folgte sie dem wohl größten Volltrottel aller Zeiten kurz nach Mitternacht zu einem Jahrmarkt.

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