Gedanken-Mix, Schreibarbeit

Antagonistische Kräfte: Die Welt als Feind

Nachdem ich mich in meinem letzten Blogbeitrag mit einem kritisch diskutierten Thema auseinandergesetzt habe, geht es heute etwas ruhiger zu. Langweilig wird es deshalb nicht. Anlässlich einer Blogparade werde ich mich heute mit einem Teilaspekt des komplexen Themengebiets Antagonisten beschäftigen. Eines, das meiner Ansicht nach oft vernachlässigt wird: die antagonistischen Kräfte in Geschichten.


Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber wenn ich an den Gegenspieler der Hauptfigur eines Romans denke, dann habe ich zuallererst das Bild einer Person im Kopf. Logisch, das Wort bezeichnet etwas Konkretes und bezieht sich nicht auf ein abstraktes Konzept. Trotzdem gibt es Bücher, in denen nicht etwa eine Person das Kontra zum Protagonisten darstellt, sondern eine antagonistische Kraft. Nur was genau könnt ihr euch darunter vorstellen? Im Gegensatz zu einem Antagonisten als Mensch, Tier o. ä., der/das spricht, ein Gesicht hat und daher leicht im Buch auszumachen ist, sind antagonistische Kräfte nicht ganz so leicht zu erkennen. Es handelt sich um eine natürliche, technische, gesellschaftliche ‚Sache‘, die pauschal gesagt, dem Glück des Protagonisten im Weg steht. Meiner Ansicht nach haben diese Kräfte drei Ebenen: natürliche Hindernisse, vom Menschen geschaffene Hindernisse und persönliche Hindernisse. Was ich mir darunter vorstelle erkläre ich kurz und gebe dazu auch ein paar Beispiele.

Natürliche Hindernisse: Hierzu zählt alles, worauf der Mensch selbst keinen Einfluss hat/hatte. Höhere Mächte, göttliches Handeln, biologische Gegebenheiten. Dinge, die im Grunde sind wie sie sind.

  • Krankheit: Ob eine todbringende Krankheit, die zu spät diagnostiziert wird, Alzheimer, eine Behinderung oder gar eine psychische Störung, sie alle können gegen das Glück des Haupthelden wirken und haben oft einen sehr dramatischen Einfluss auf die Handlung.
  • Naturkatastrophen: Zerstört ein Tornado, eine Flut oder ein Tsunami die Existenz einer Hauptperson, hat diese es nicht einfach. Besonders dann nicht, wenn eine Reihe von Katastrophen aufeinanderfolgen.

Vom Menschen Geschaffene Hindernisse: Ob technische Errungenschaften, deren Sklave wir werden, ein unmenschliches Staatssystem, Kriege oder Armut. Das alles sind Dinge oder Konzepte, die Menschen beeinflussen und meist künstlich geschaffen worden sind.

  • Die Gesellschaft: Wer kennt es nicht selbst? Unserer Gesellschaft sind Grenzen gesetzt. Sie gibt uns vor, wie wir uns zu verhalten haben, was falsch ist und was nicht. In Romanen können diese Grenzen den Antagonisten einschränken und damit gegen seine Ziele wirken.
  • Das Umfeld: Dazu zählen Familie, Freunde, Verwandte, Bekannte, vielleicht auch der Ton auf der Arbeitsstelle. Wer in einem Umfeld aufwächst, das Homosexualität ablehnt, selbst jedoch sein Coming Out plant, wird dieses als Hemmnis wahrnehmen.
  • Invasionen/Krieg: Wenn die feindliche Armee nicht gerade Personen hat, die einen Namen tragen und gezielt gegen den Protagonisten wirken, ist auch das eine antagonistische Kraft. Denken wir nur an Duddits Dreamcatcher, wo sich intelligente Aliensporen als Gegner der Menschheit entpuppten und zu ihrem Vorteil beeinflussten.

Persönliche Hindernisse (Psyche): Der Verstand ist unser Gefängnis. Wer glaubt, die Welt ist schwarz, feindlich und bösartig, der empfindet das nicht einfach nur so. Es ist eine Tatsache, die einen Menschen zerstören kann.

  • Phobien: Ängste gehören zum Beispiel dazu. Eine Person, die vor Panik nicht mehr den Raum verlassen kann, weil sich das Draußen wie ein Feind anfühlt, braucht viel Kraft, um diesen inneren Gegenspieler zu besiegen.
  • Die Vergangenheit: Unsere Erfahrungen prägen uns maßgeblich. Manche leben so sehr in der Vergangenheit, dass sie das Jetzt nicht mehr ertragen. Sie sind heimgesucht von quälenden Erinnerungen und können sich auf nichts Neues einlassen. Denn es könnte immer wieder passieren.

Ihr seht, hinter beinahe allen Dingen verbergen sich antagonistische Kräfte. Gerade sitze ich in meinem Wohnzimmer und tippe diesen Beitrag, den ich natürlich unbedingt heute noch fertigstellen möchte. Man stelle sich nun vor, das Stromkabel gibt den Geist auf und der Akku hält nur noch eine halbe Stunde. Der Kampf mit der Zeit beginnt und am Ende scheitert alles, weil der Laptop zu früh von alleine herunterfährt. Was für ein Drama!


Die Gesellschaft als antagonistische Kraft

Ich wollte diesen Beitrag schreiben, weil ich Dystopien liebe. Ein Genre, in dem es oft nicht Personen sind, die gegen Protagonisten wirken, sondern politische Gegebenheiten, gesellschaftliche Normen oder Systeme. Wie so etwas aussehen kann, möchte ich an einem prominenten Beispiel einmal aufschlüsseln.

In Fahrenheit 451 von Ray Bradbury ist die antagonistische Kraft eindeutig: Ein politisches System, in dem alle Menschen gleichgeschaltet leben sollen, um Unzufriedenheit im Keim zu ersticken. Deshalb werden eigene Gedanken unterdrückt und das Lesen von Büchern ist verboten. Wer ein Buch besitzt, macht sich strafbar, wird von der Feuerwehr aufgespürt und verschwindet spurlos. Es gäbe mehrere Möglichkeiten, daraus eine spannende Geschichte zu entwickeln.

  1. Der Protagonist ist eine Figur, die in diesem System geboren ist, aber in einer Familie aufwächst, die dennoch Bücher sammelt. Dieses Geheimnis wird aufgedeckt und der Held wird plötzlich vom Staat bedroht.
  2. Die Hauptfigur ist jemand, die durch unglückliche Umstände in der Welt landet und sich mit den Gepflogenheiten nicht abfinden kann (Zeitreise zum Beispiel).
  3. Es handelt sich um jemanden, der eigentlich mit dem System einverstanden ist, durch einen Schlüsselmoment darauf stößt, dass dieses nicht funktioniert. Er entscheidet sich, es nicht mehr zu akzeptieren.

Ray Bradbury wählte das letzte Szenario. Sein Held ist ein Feuerwehrmann, der damit beauftragt ist, Bücher zu verbrennen. Er ist verheiratet, ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft und hätte keinen Grund, am System zu zweifeln. Trotzdem wirft ihn der Kontakt mit einer jungen Frau aus der Bahn. Zwischen ihnen gibt es keine Liebesbeziehung, doch ihre Gespräche sind so intensiv, dass er alles in Frage stellt. Plötzlich bemerkt er, wie unglücklich er ist, weil er emotionslos und in Highspeed durch die Zeit rauscht, ohne darüber nachzudenken. Im Grunde wirkt die antagonistische Kraft des Buches erst, als der Protagonist selbst entscheidet, sich gegen die Gesellschaft zu wehren, die ihm dann in Form eines Roboterhundes und seines Chefs Steine in den Weg legt. Das erzeugt Spannung, denn zuerst fallen wir ahnungslos in diese Welt und sind schon fast schockiert, wie ’normal‘ dieses gefühlskalte Leben für den Feuerwehrmann ist. Eine Erleichterung also, dass er sich wehrt.


Ein Fazit

Und wozu jetzt der ganze Aufwand, wenn es im Grunde doch viel einfacher ist, dem Protagonisten einen Antagonisten gegenüberzustellen, der einfach nur der Böse ist? Der Inbegriff eines Psychopathen sozusagen, der alles daran setzt, den Protagonisten zu Fall zu bringen. Ganz einfach, ein schwarz-weiß Schema ist oft langweilig und schnell zu durchschauen. Wenn wir wissen, dass der Antagonist böse ist und damit eindeutig verlieren wird, haben wir kein Interesse mehr daran, das Buch zu Ende zu lesen. Eine antagonistische Kraft ist im Gegensatz dazu sehr schwer zu begreifen. Sie hat kein Motiv und kein Ziel und entzieht sich so gut wie jedem äußeren Einfluss. Eine Krankheit kommt einfach, ein Tornado genauso, die Gesellschaft ist träge und nicht von einem Augenblick auf die andere zu ändern. Doch genau darum geht es, die Unberechenbarkeit, das Ungewisse, die Frage, ob der Held es trotz aller Widrigkeiten schafft. So wie wir selbst in unserem Leben uns immer wieder persönlichen Antagonisten gegenübersehen.

Vielleicht habt ihr ja noch Beispiele aus Büchern, in denen antagonistische Kräfte wirken, die nicht zu den hier im Beitrag erwähnten gehören. Schreibt sie doch einfach in den Kommentar. Ich freue mich auf eure Meinung.

8 Gedanken zu „Antagonistische Kräfte: Die Welt als Feind“

  1. Ein sehr detaillierter und sehr durchdachter Beitrag, der sehr zum Nachdenken anregt.

    Mich faszinieren vor allem die Gedanken, die du dir gemacht hast 🙂 (Meine Definition von antagonistischen Kräften war/ist ja eine andere, aber beide Ansätze haben ihre Berechtigung.)

    Und das Beispiel mit Fahrenheit 451 ist toll gewählt. Es drückt sehr gut aus, worum es in einer Dystopie eigentlich geht.

    „Es handelt sich um jemanden, der eigentlich mit dem System einverstanden ist, durch einen Schlüsselmoment darauf stößt, dass dieses nicht funktioniert. Er entscheidet sich, es nicht mehr zu akzeptieren.“ – Das beschreibt ja auch einen meiner Protagonisten 😉

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    1. Vielen lieben Dank Stella. Wörter oder auch Wortgruppen werden ja oft von Mensch zu Mensch anders verstanden. In dem Sinne ist es sogar gut, wenn wir nicht das Gleiche über dieses Thema denken. Das macht es so spannend.
      Das ist auch genau die Storyline einer Dystopie, die ich extrem spannend finde. Es könnte einem ja auch selbst passieren (siehe DDR). Im Grunde findet man sich mit den Gegebenheiten ab, mag sie sogar und plötzlich kommt der Moment, in dem sich diese utopische Welt ins Gegenteil verkehrt.

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      1. Genau. Das zeigt ja, dass die dystopische Gesellschaft – wie jeder gute Antagonist – auch ihre guten Seiten hat. Sie funktioniert. Sie bietet Schutz, oder Antworten auf dringende Fragen. Sie ist einfach das, was man kennt, womit man aufgewachsen ist.

        Da braucht es extrem viel Stärke und ein wirklich einschneidendes Erlebnis, um das alles dauerhaft zu verwerfen.

        Und genau das macht ja die Geschichte so spannend… 🙂

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      2. Hm, ich weiß nicht. Eine „dystopische“ Gesellschaft ist ja eigentlich eine, in der außer Repressionen etc. nichts so richtig funktioniert, außer, der Einzelne (in Fiktion: der Protagonist & Freunde) nimmt die Sache selbst in die Hand.
        So eine Umwelt kann für die, die in ihr leben, natürlich „das Bekannte“ sein, in dem sie sich zurechtfinden. (Gemäßigte Diktaturen sind da gute Beispiele.) Ob das wirklich eine „gute“ Seite ist, sei einmal dahingestellt.
        Auf jeden Fall entspricht ein solches Setting unserer (zumal heutigen) Welt mehr als ein „idealer Staat“ (Morus‘ „Utopia“). Dadurch spricht es uns wohl mehr an.

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  2. Ein sehr ausführlicher Beitrag zu einer Gruppierung von Antagonisten 🙂 passt perfekt zu deinem derzeitigen Projekt 😉

    Diese Art der Antagonisten ist oft eines der interessantesten. Der Leser weiß manch einmal selbst nicht, ob er das System und das Handeln gut oder schlecht heißen soll. Und es richtet sich im eigentlichen Sinne zu Beginn nicht gezielt gegen den Protagonisten und will ihm eigentlich keinen Schaden zufügen, bis dieser realisiert, dass diese Welt nur Kontrolle will.

    Durch Zufall habe ich den Film „Die Bestimmung“ (ist wohl auch eine Bücherreihe^^) am Wochenende entdeckt. Dort werden Menschen in fünf Gruppierungen eingeteilt, dessen Leitbild sie vertreten sollen. Bis einer merkt, dass sich Menschen nicht einfach in Schubladen stecken lassen, sondern mehr sind, als das.

    Das schöne ist ja, dass bei solch freien Antagonisten gleich ein ganzes Konzept aufgebaut werden kann und damit eine ganz neue Welt entsteht.

    Super geschrieben mit vielen Beispielen :3

    Sarah

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  3. Schöner Beitrag!
    Wenn ich meine eigenen Geschichten ansehe, merke ich, dass ich sehr gerne unpersönliche oder auch psychische „antagonistische Kräfte“ einsetze. Mit dem Nachteil, dass es dann spätestens vom Lektor heißt: „Da muss aber ein greifbarer Antagonist her“. (So ist nun mal die heutige Schreib-Lehre …) Also versuche ich immer, einen (einzelnen) greifbaren Gegner einzubauen (der eine feste Gegner-Gruppe). Ich vermute, anderen AutorInnen geht es ähnlich.

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      1. Das stimmt. Es können ja auch mehrere Antagonisten sein, die die feindliche Kraft verkörpern. Bzw. konkrete Szenen, die dem Leser konkrete „Bilder“ bieten.

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